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Antisemitismus bei Migranten: Wir brauchen einen anderen Geschichtsunterricht


Antisemitismus bei Migranten
Wir brauchen einen anderen Geschichtsunterricht

  • Lamya Kaddor
MeinungEine Kolumne von Lamya Kaddor.

07.09.2018Lesedauer: 5 Min.
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Eine Schulklasse in Deutschland: Muslimische Schüler tun sich schwer mit deutschen Geschichtsunterricht. Deshalb müsste der Lehrplan geändert werden, meint unsere Kolumnistin.Vergrößern des Bildes
Eine Schulklasse in Deutschland: Muslimische Schüler tun sich schwer mit deutschen Geschichtsunterricht. Deshalb müsste der Lehrplan geändert werden, meint unsere Kolumnistin. (Quelle: Gerhard Leber/imago-images-bilder)

Jungen Migranten fehlt der Bezug zur deutschen Geschichte. Die Nazi-Zeit und der Holocaust werden häufig bagatellisiert. Die Schulen müssen darauf reagieren, zum Beispiel im Geschichtsunterricht.

Gesellschaften haben sich immer verändert und werden sich immer verändern. Und das ist gut so, sonst würden wir immer noch im Mittelalter leben, Menschen vierteln und auf Scheiterhaufen verbrennen oder an Lepra und der Pest sterben. Einst waren Völkerwanderungen und Eroberungsfeldzüge Motoren des Wandels, heute sind es Arbeitsmigration und Globalisierung. Viele ängstigen sich davon. Doch es gibt keinen Grund dazu.

In einem modernen und demokratischen Land können Gesellschaften solche Prozesse erstmals in der Geschichte der Menschheit friedlich und proaktiv steuern. Dass es dabei Reibungen, Spannungen und Konflikte gibt, ist normal. Sie gilt es aufzulösen. Genau das bedeutet Integration.

In dieser Woche wurden die Probleme wieder deutlich. In Deutschland gibt es bekanntlich jüdische Turn- und Sportvereine, die meist den Namensbestandteil Makkabi habe. Der Präsident ihres Dachverbands "Makkabi Deutschland", Alon Meyer, schlug jetzt Alarm. Viele seiner Vereinsmitglieder sehen sich im Alltag oft mit antisemitischen Anfeindungen durch arabische, muslimische Migranten konfrontiert. Hier müssen die Verantwortlich sofort intervenieren. Verbale und erst recht tätliche Feindseligkeiten dürfen nicht geduldet werden.

Lehrplan muss angepasst werden

Um jedoch langfristig etwas zu ändern, muss man weiter in die Zukunft denken. Ein Instrument ist die Schulbildung, und in diesem Fall vor allem der Geschichtsunterricht. In einer sich wandelnden Gesellschaft müssen Lehrpläne von Zeit zu Zeit angepasst werden – hier unter der Fragestellung, wie man Jugendliche mit Migrationshintergrund, und hier insbesondere arabisch- oder türkischstämmige Jugendliche, die ein Großteil der Schülerschaft ausmachen, besser für die deutsche Geschichte sensibilisiert.

Schaut man sich die Geschichtsvermittlung hierzulande an, sticht neben der deutschen Wiedervereinigung vor allem die Zeit des Nationalsozialismus heraus. Mit beiden haben die Menschen im Alltag noch die meisten Berührungspunkte. Zwei Drittel aller Deutschen führen sie auf die Frage hin an: "Welche Ereignisse aus den letzten 100 Jahren hatten Ihrer Meinung nach die größten Auswirkungen auf unser heutiges Leben?"

An der Bedeutung der beiden Themen für die Lehrpläne hat sich in der Vergangenheit somit wenig geändert, geändert hat sich die Zusammensetzung derjenigen, die unterrichtet werden sollen. Deutschland ist ein Einwanderungsland geworden. Die Menschen, die heute geboren werden, weisen eine erhebliche migrationsbedingte Heterogenität auf.

In den ersten Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg bedurfte es somit für die Didaktik der Geschichte keiner Berücksichtigung der natio-ethno-kulturellen Zusammensetzung von Schulklassen. Wer in Deutschland zur Schule ging, hatte in der Regel einen familiären Bezug zur unmittelbaren Vergangenheit dieses Landes. Im Fokus pädagogischer Überlegungen der Bonner Republik stand daher eher die Problematik der gesellschaftlichen Ignoranz gegenüber dem Thema Nationalsozialismus

Kein Bezug zur deutschen Vergangenheit

Nach dem Fall der Berliner Mauer rückte dann zunächst die Frage in den Vordergrund, wie man die verschiedenen Lebenswelten der ost- und westdeutsch Sozialisierten zusammenbringt, und gegenwärtig ist die Frage der interkulturellen Vermittlung von Geschichtswissen eine der Hauptherausforderungen.

Vielen Schülerinnen und Schülern, deren Eltern eingewandert sind, ist der familiäre Bezug zur deutschen Vergangenheit sozusagen nicht biologisch gegeben. Manche junge Menschen insbesondere mit einem außereuropäischen Migrationshintergrund tun Geschehnisse wie den Holocaust und den Zweiten Weltkrieg daher allzu leicht als irrelevant für ihr eigenes historisches Empfinden ab: "Meine Großeltern, Eltern und ich sind allesamt unschuldig, warum soll ich mich damit näher befassen?"

Diese Haltung trifft auf mangelndes Wissen und mündet nicht selten in der Relativierung der Geschehnisse: Die Schüler sagen sich, in anderen Teilen der Welt habe es auch schlimme Kriegsverbrechen geben. Darüber hinaus wird in traditionellen pädagogischen Konzepten unter "Holocaust-Erziehung", wie die Antisemitismusforscherin Juliane Wetzel erklärt, vielmehr eine Moral- und Werteerziehung verstanden, die gegen Rassismus, Rechtsextremismus, Antisemitismus oder Fremdenfeindlichkeit immunisieren solle. Schüler mit Migrationshintergrund schrecken solche Ansätze auch ab, da sie sich angesichts eigener Diskriminierungserfahrungen in Deutschland selbst als Opfer sehen.

Migranten-Kinder müssen Täterperspektive kennen lernen

Vor diesem Hintergrund muss eine Pädagogik der Solidiarisierung entwickelt werden. Dazu ist eine Empathie-Vermittlung nötig. Jungen Menschen müssen die Relevanz der Vergangenheit für ihr eigenen Biografien verstehen. Es geht um eine emotionales Begreifen, losgelöst von Schuldfragen.

Das kann man auf verschiedenen Wegen erreichen. Einer ist der persönliche Kontakt. Beim Thema Holocaust reicht es nicht, schlimme schwarz-weiß Dokus über die Wirklichkeit zu zeigen. In den vergangenen Jahrzehnten wurde deshalb zunehmend der Kontakt mit Zeitzeugen in die Geschichtsvermittlung eingebaut. Inzwischen sind die meisten Zeitzeugen gestorben. In Zukunft werden Lehrer an dieser Stelle verstärkt auf die Zusammenarbeit mit jüdischen Gemeinden setzen, mit Menschen, deren Vorfahren Opfer der Judenvernichtung geworden sind. Geschichte wird lebendig über Menschen, die einen persönlichen Bezug dazu haben.

Das gilt für alle Schülern gleichsam. Speziell bei jenen mit Migrationshintergrund ist es zudem nötig, eine gewisse Bereitschaft zur Identifikation mit den "Tätern" zu schaffen. Die Aufgabe dabei besteht darin, die Opferkonkurrenz auszuschalten. Jedem Lernenden muss klar werden: Auch wenn ich selbst zum Opfer werden kann, kann ich trotzdem andere ausgrenzen und Täter sein. Schließlich sollte Geschichtsunterricht bei Schülern mit Migrationshintergrund mehr Bezug zu den jeweiligen Familiengeschichten erzeugen.

Bezug zur Nazi-Zeit durch muslimische Täter und Opfer

Beides lässt sich zum Beispiel mit ergänzenden Bausteinen im Lehrplan erreichen. So könnte Geschichtslehrer thematisieren, dass zehntausende "Muslime" für die Wehrmacht oder die SS gekämpft haben. Sie könnten die bosnische Handschar-Division oder die Ustascha-Milizen hervorheben, den Besuch des palästinensischen Muftis von Jerusalem, Amin al-Husseini, bei Adolf Hitler in Berlin, die Islampolitik des Auswärtigen Amts. Auch über positive Beispiel ließe sich eine gewisse Nähe erzeugen. So könnten die Biografien des ägyptischen Arzts Mohammed Helmy thematisiert werden, des tunesischen Aristokraten Khaled Abdul-Wahab oder des iranischen Diplomaten Abdol Hossein Sardari in Paris, die allesamt in den 40er Jahren Juden vor der Vernichtung gerettet haben.

Diese Empfehlungen berühren ein seit Jahrzehnten drängendes Grundproblem: die Überwindung des Eurozentrismus in Geschichtsvermittlung. In einer sich globalisierenden Welt ist das ein wachsendes Problem. An der Stelle aber, an der viele Lernende ihre familiären Wurzeln nicht mehr in Mitteleuropa verorten können, wird es deutlich virulenter, insbesondere wenn der Eurozentrismus mit einer geringschätzigen Darstellung außereuropäischer Kulturleistungen verbunden ist.

Auch solche Schwierigkeiten ließen sich über Lehrpläne relativ kurzfristig abbauen, indem man kleinere Schwerpunkte beispielsweise auf den Afrikafeldzug der Achsenmächte setzt, dem deutsch-türkischen Freundschaftsvertrag von 1941, die Hitlerjugend in China, den Dreimächtepakt oder – inhaltlich vorbereitend – auf die deutsch-koloniale Vergangenheit in Afrika, Asien und der Südsee.

Lamya Kaddor ist Islamwissenschaftlerin, Religionspädagogin und Publizistin. Ihr neues Buch heißt "Die Sache mit der Bratwurst. Mein etwas anderes deutsches Leben" und ist bei Piper erschienen. Sie können unserer Kolumnisten auch auf Facebook oder Twitter folgen.

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