Der Fall Sami A. Rettet den Rechtsstaat!
Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.
Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.Wieder einmal zeigt sich, wie Populisten unsere Prinzipien von Freiheit und Rechtsstaat in Verruf bringen. Der vorauseilende Gehorsam gegenüber dem vermeintlichen Willen des Volkes bringt uns zunehmend in Gefahr.
Glücklicherweise werden wir nicht direkt vom Willen des Volkes gelenkt, sondern von politischen Repräsentanten, die wir im Zweifelsfall an der Wahlurne abstrafen oder dank Pressefreiheit öffentlich zur Rede stellen oder von Staatsorganen zur Rechenschaft ziehen lassen können. Denn in freien oder teilweise freien Demokratien kann das Volk ein fürchterlicher Despot sein, das seine hässliche Fratze in der Vergangenheit schon öfters gezeigt hat.
Das Volk ist launisch, unbesonnen, leichtgläubig und verführbar. Mit Lüge, Simplifizierung, Emotionalisierungen und anderen Werkzeugen öffentlicher Manipulation lässt es sich aus lauter Denkfaulheit und Bequemlichkeit mitunter wie ein abgerichtetes Tier auf den dunklen Pfad führen und erkennt sein Schicksal erst dann, wenn es zu spät ist. Siehe Türkei. Siehe USA. Siehe Brexit. Der frühere Bundesinnenminister Gerhart Baum mahnte jüngst, zu seiner Amtszeit, als der RAF-Terrorismus Deutschland bedroht habe, seien etwa 70 Prozent der Befragten für die Todesstrafe gewesen.
Gerichte sind an Gesetze gebunden und an nichts anderes
Der einzige Schutz vor diesem Unsympath namens Volk ist im Zweifelsfall die freiheitlich demokratische Grundordnung, die neben den Grundwerten durch die Unabhängigkeit der einzelnen Gewalten in einem Staat garantiert wird – insbesondere durch die Judikative, die Gerichtsbarkeit. Und nun sagt ausgerechnet Nordrhein-Westfalens Innenminister Herbert Reul: "Richter sollten immer auch im Blick haben, dass ihre Entscheidungen dem Rechtsempfinden der Bevölkerung entsprechen."
Ein Minister, der seinen Eid auf die Verfassung geschworen hat, redet Populisten nach dem Mund und offenbart dabei ein Rechtsverständnis, das höchst gefährlich ist. Gerichte sind an Gesetze gebunden und an nichts anderes. Das ist das Urprinzip der Gewaltenteilung und mithin des Rechtsstaats. Und der Rechtsstaat ist die Basis unserer Demokratie. Muss ein deutscher Innenminister an dieser Stelle wirklich belehrt werden?
Populisten verändern unsere Demokratien
Niemand geringeres als die Präsidentin des Oberverwaltungsgerichts (OVG) und des Verfassungsgerichtshofs in NRW, also die höchste Richterin des bevölkerungsreichsten Bundeslandes, Ricarda Brandts, sieht durch das jüngste Vorgehen der Exekutive, der gesetzausführenden Gewalt, den Rechtsstaat in Bedrängnis und rät ihren Richterkollegen doch tatsächlich, nicht mehr in jedem Fall auf die Behörden zu vertrauen. Ein bemerkenswerter Vorgang. Offenbar gehen mitten in Deutschland Staatsvertreter ganz schamlos hin und versuchen Justizentscheidungen auszuheben und fühlen sich dabei ermutigt, weil sie den angeblichen Willen des Volkes umsetzen.
Solche Entwicklungen im Schatten des aufsteigenden Populismus in Europa und in der Welt können, nein, müssen einem Angst machen. Es ist dramatisch, wie diese Populisten unsere bewährten Demokratien verändern, wie sie Verantwortliche in vorauseilendem Gehorsam populistische Denkweisen vorwegnehmen und bewährte Prinzipien vergessen lassen.
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In Österreich wollte der ORF-Generaldirektor offenbar in einem Akt des willfährigen Kotaus vor der neuen rechtspopulistischen Regierungspartei FPÖ seinen Mitarbeitern verbieten, Sympathie, Antipathie, Kritik und 'Polemik' gegenüber politischen Institutionen und deren Vertretern zu bekunden. Die CSU-Führung brachte Anfang Juli gleich die ganze Bundesregierung in Gefahr, weil sie aus lauter Unbelehrbarkeit glaubte, Wähler mobilisieren zu können, indem sie sich noch härter als die AfD gibt. Und nun also NRW und Sami A.
Es geht hier nicht um Sami A.
Abgesehen von allen juristischen Diskussionen ist die Vehemenz von Brandt und das Urteil ihres Gerichts, die Stadt Bochum zu zwingen, den rechtswidrig abgeschobenen Islamisten Sami A. aus Tunesien zurückzuholen, für das Wesen der Demokratie unheimlich wichtig gewesen. Viele Menschen mögen das nicht verstehen. Sie fragen sich, warum wird so ein Aufsehen um einen womöglich gefährlichen Islamisten gemacht?
Selbstverständlich will kein vernünftiger Mensch unbedingt den mutmaßlichen Leibwächter von Osama bin Laden wieder im Land haben. Ich persönlich hoffe, dass die Abschiebung alsbald sauber abgeschlossen werden kann. Doch es geht hier gar nicht um Sami A. Es geht nicht um einen unliebsamen Islamisten. Es geht in diesem Fall um viel, viel mehr. Es geht darum, unseren Rechtsstaat und damit unsere Demokratie gegen populistischen Eifer zu verteidigen.
Der Rechtsstaat muss sich auf seine Prinzipien konzentrieren
"Wenn die Bürger (der Souverän) eines Landes und ihre bediensteten Juristen nicht mehr die gleiche Sprache sprechen, dann lernen Letztere entweder die ihnen fremd gewordene Sprache (wieder), oder sie sind umzuschulen, oder zu entlassen", so und ähnlich echauffiert sich das vermeintliche Volk über das OVG, während es gleichzeitig den drohenden Zeigefinger gegenüber dem türkischen Präsidenten Erdogan erhebt, der in den vergangenen Jahren genauso mit den "bediensteten Juristen", die nicht mehr "die gleiche Sprache sprechen", verfahren ist.
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Erdogan als Vorbild für Deutschland? Ein Islamist mag derzeit das wohl unwürdigste Subjekt im Staate sein. Und die "Bild"-Zeitung mag seit Wochen an vorderster Front die Ausweisung von Sami A. fordern, aber der Rechtsstaat muss sich auf seine Prinzipien konzentrieren und wir Bürger sind dabei die obersten Wächter, denn wir sind auch die obersten Profiteure. Wenn wir heute das Gesetz Gesetz sein lassen, weil das Volk (und sei es auch zu Recht) das Opfer verachtet, dann trifft es morgen womöglich uns selbst, weil wir dann dem verführten Volk als verachtenswert gelten.
Lamya Kaddor ist Islamwissenschaftlerin und Publizistin. Ihr neues Buch heißt: "Die Sache mit der Bratwurst. Mein etwas anderes deutsches Leben". Sie können unserer Kolumnistin auch auf Facebook oder Twitter folgen.