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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Ukraine-Talk bei "Anne Will" Sahra Wagenknecht sorgt mit Äußerungen für Fassungslosigkeit
Bei Anne Will ging es um die sich zuspitzende Ukraine-Krise und Putins Absichten. Linken-Politikerin Sahra Wagenknecht machte mit ihren Thesen nicht nur den zugeschalteten SPD-Chef Lars Klingbeil "fassungslos".
Am Schlusstag der Münchner Sicherheitskonferenz und am Tag neuer Gefechte zwischen ukrainischen Regierungstruppen und von Russland unterstützten Separatisten im Donbass war das Thema geradezu zwingend: "Keine Entspannung im Konflikt mit Putin – wie ist ein neuer Krieg zu verhindern?" lautete die Leitfrage bei "Anne Will".
Dafür hatte die Moderatorin ein rund zehnminütiges vorab geführtes Interview mit EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen und dem aus München zugeschalteten SPD-Vorsitzenden Lars Klingbeil zu bieten. Vor Ort waren nur drei Studiogäste.
Die Gäste
- Norbert Röttgen (CDU), Mitglied im Auswärtigen Ausschuss
- Sahra Wagenknecht (Die Linke), Mitglied des Deutschen Bundestages
- Constanze Stelzenmüller, Juristin und Publizistin
Zunächst bat Will Constanze Stelzenmüller, Expertin für transatlantische Beziehungen an der renommierten Brookings Institution in Washington D.C., um ihre Einschätzung der Kriegsgefahr. Es seien inzwischen "so viele einsatzbereite Kampftruppen an drei ukrainischen Grenzen aufgestellt", dass der Befehl zum Einsatz jederzeit gegeben werden könne, befand die Publizistin.
Sie betonte, dass "wir uns bereits jetzt im Zustand massiver russischer Aggression befinden", und wies auf das Risiko einer Eskalation "aus Versehen" oder aufgrund von Missverständnissen hin. Lars Klingbeil pflichtete ihr bei: Er teile die Analyse, dass es gerade "Spitz auf Knopf" stehe, aber solange es die kleinste Hoffnung gebe, müssten alle Gesprächskanäle genutzt werden.
Sahra Wagenknecht sorgt für Fassungslosigkeit
Ob denn beide Seiten alles täten, um einen Krieg zu verhindern, wandte sich Anne Will nun an Sahra Wagenknecht – und die passionierte Provokateurin fand sofort in ihre Rolle. Sie beklagte "die Aggressivität, mit der von amerikanischer Seite ein russischer Einmarsch geradezu herbeigeredet wird", und vermutete, da sei wohl "der Wunsch Vater des Gedankens".
Die Russen hätten schließlich gar kein Interesse an einer Invasion, sie wollten doch nur Sicherheitsgarantien. "Wenn man ihnen da Gewissheit gibt", so vermutete die Linken-Politikerin, würde das zu einer Entspannung führen. Die Nato-Osterweiterung nannte sie "natürlich eine Provokation", außerdem gebe das westliche Militärbündnis "18-mal so viel für Rüstung aus wie Russland".
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Norbert Röttgen versuchte zwar, die Krisenkommunikation der US-Regierung zu erklären. Es gehe darum, durch Vorwegnahme möglicher Vorwände ein Angriffsszenario unwahrscheinlicher zu machen. Doch Wagenknecht ließ sich davon nicht beeindrucken: "Es gilt zu akzeptieren, dass Russland Sicherheitsinteressen hat", argumentierte sie. "Man stelle sich vor, ein mittelamerikanisches Land würde einem Militärbündnis beitreten, das von Russland oder China geführt wird", hielt sie dem CDU-Mann entgegen, dann wäre ein "Riesenaufstand der USA" die Folge.
"Ihre Sichtweise ist zu 100 Prozent die des Kremls", stellte Röttgen fest und äußerte stattdessen die Überzeugung, dass Wladimir Putin sich nicht mit dem Ende des Kalten Krieges abfinden könne und "Vasallenstaaten" jenseits seiner Grenzen wolle.
Auch Lars Klingbeil und Constanze Stelzenmüller konnten angesichts der Wagenknecht-Einlassungen nur mühsam an sich halten. Der SPD-Vorsitzende zeigte sich "fassungslos", die Publizistin nannte die angeführten 18-mal höheren Rüstungsausgaben der Nato "eine Milchmädchenrechnung": Auf diesen Betrag komme man nur, wenn man das gesamte US-Militärbudget einbeziehe, wobei aber lediglich ein Bruchteil der US-Streitkräfte der Nato zugewiesen seien.
Im Übrigen habe Frau Wagenknecht bei ihrem Russlandbild wohl "sehr viel ausgeblendet", etwa den Tschetschenien-Krieg, den Krieg gegen Georgien, die Annexion der Krim und den Stellvertreterkrieg am Donbass. "Das einzige, was Russland wirklich bedroht, ist die demokratische Transformation Osteuropas", stellte sie fest.
Von der Leyen beschwört "massive Konsequenzen"
In dem zwischendurch eingespielten Interview mit Ursula von der Leyen beschwor die EU-Kommissionspräsidentin noch einmal die "massiven Konsequenzen", die Putin im Fall eines Angriffs auf die Ukraine zu erwarten habe: "Russland wird im Prinzip abgeschnitten von den internationalen Finanzmärkten", so die CDU-Politikerin.
Darüber hinaus würden Wirtschaftssanktionen alle Güter betreffen, die Russland dringend brauche, um seine einseitig auf Öl, Kohle und Gas basierende Wirtschaft zu diversifizieren. Der ukrainischen Forderung, Sanktionen schon jetzt zu verhängen, erteilte sie eine Absage: Der Schritt der Sanktionen sei "so gewaltig, so massiv, so folgenträchtig für Russland", dass man das "Fenster der Chance" noch geöffnet halten solle.
Im Studio pflichtete Constanze Stelzenmüller bei: Die vorgesehenen Maßnahmen seien wirklich "historisch", "die schärfsten Sanktionen aller Zeiten" – und daher nur dann gerechtfertigt, wenn Putin wirklich losschlage.
Natürlich musste Anne Will in diesem Kontext auch noch einmal die umstrittene Gas-Pipeline Nord Stream 2 ansprechen. Ob er das Wort denn inzwischen in den Mund nehme, wollte sie von Lars Klingbeil wissen – bekam aber einmal mehr eine ausweichende Antwort: "Putin lässt uns im Ungewissen, da müssen wir ihm nicht transparent machen, was er zu erwarten hat", so der SPD-Chef.
Bemerkenswert skeptisch äußerte sich Ursula von der Leyen, deren EU-Kommission im Zertifizierungsprozess nach der Bundesnetzagentur an der Reihe ist: "Ich halte uns in Europa für jetzt schon zu erpressbar", erklärte sie und forderte eine Hinwendung zu Grünem Wasserstoff.
- "Anne Will" vom 20. Februar 2022