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So judenfeindlich sind die Deutschen


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So judenfeindlich sind die Deutschen

spiegel-online, Von Anna Reimann

05.12.2012Lesedauer: 6 Min.
NPD-Anhänger vor der Synagoge in der Oranienburger Straße in BerlinVergrößern des Bildes
NPD-Anhänger demonstrieren vor der Synagoge in der Oranienburger Straße in Berlin (Quelle: imago-images-bilder)

Der Hass auf Juden - er ist in Deutschland heute so schlimm wie zu Hitlers Zeiten, klagt der US-Theatermacher Tenenbom. Auch Kanzlerin Merkel sagt vor dem Besuch von Israels Premier Netanjahu, es gebe ein großes Maß an Antisemitismus im Land. Wie verbreitet ist Judenfeindlichkeit? Der Faktencheck.

Der Judenhass sei in Deutschland der gleiche wie zu Zeiten Hitlers, davon ist der Amerikaner Tuvia Tenenbom überzeugt. Die Erfahrungen, die ihn zu diesem Urteil gebracht haben, beschreibt der Theatermacher aus New York in seinem Buch "Allein unter Deutschen", das am 10. Dezember erscheint. Tenenbom reiste durch die Republik, er besuchte so unterschiedliche Orte wie die Neonazi-Kneipe Club 88 in Neumünster, das alternative Hamburger Schanzenviertel, in Tübingen traf er auf mülltrennversessene Grüne.

Es ist ein Buch, das für Debatten sorgen wird. Der Rowohlt-Verlag wollte es auch aus rechtlichen Bedenken anders als zunächst vereinbart nicht mehr drucken. Stattdessen erscheint "Allein unter Deutschen" nun bei Suhrkamp.

Die schlimmsten Auswüchse der Judenfeindlichkeit in Deutschland musste im August der Berliner Rabbiner Daniel Alter erleben - er wurde von Unbekannten zusammengeschlagen und schwer verletzt. Viele hat der brutale Vorfall aufgeschreckt. Bundeskanzlerin Angela Merkel sagte kürzlich nach ihrem Besuch beim Zentralrat der Juden, es gebe ein großes Maß an Antisemitismus in Deutschland. An diesem Mittwoch trifft sich Merkel in Berlin mit Benjamin Netanjahu. Der israelische Regierungschef dürfte aufmerksam beobachtet haben, unter welchen Bedingungen Juden in Deutschland leben.

Wie mächtig ist der Antisemitismus in Deutschland?

Judenfeindliche Stereotype sind tief in der deutschen Alltagskultur verankert - da sind sich Experten einig. Besonders zwei Zahlen haben sich dabei in den vergangenen Jahren als stabil erwiesen.

● 15 bis 20 Prozent der Deutschen haben latent antisemitische Haltungen.
● 8 bis 10 Prozent der Deutschen äußern sich in Umfragen offen antisemitisch, halten Juden etwa für andere, schlechtere Menschen.

Wissenschaftler sprechen hier von manifestem Antisemitismus oder einem antisemitischen Weltbild. Zuletzt hat die Friedrich-Ebert-Stiftung in ihrer Untersuchung zu Rechtsextremismus in Deutschland "Die Mitte im Umbruch" festgestellt, dass rund neun Prozent der Bevölkerung folgenden drei Aussagen überwiegend oder vollständig zustimmen:

"Noch heute ist der Einfluss der Juden zu groß."

"Die Juden arbeiten mehr als andere Menschen mit üblen Tricks, um das zu erreichen, was sie wollen."

"Die Juden haben einfach etwas Besonderes und Eigentümliches an sich und passen nicht so recht zu uns."

Die Zustimmungswerte bei den einzelnen Aussagen sind deutlich höher als neun Prozent - als antisemitisch wurde aber nur eingestuft, wer alle drei Sätze für richtig hielt.

Wann und wie oft haben diese Haltungen im Alltag Folgen für die mehr als 100.000 Juden, die in Deutschland leben? Jüdische Schulen und Synagogen stehen unter Polizeischutz, jüdische Gläubige leben in ständiger Wachsamkeit - Beschimpfungen, Beleidigungen sind viele längst gewöhnt. Die registrierten Straftaten mit antisemitischem Hintergrund sind indes im Zeitraum von 2005 bis 2010 zurückgegangen.

Wer ist antisemitisch?

Der Bielefelder Forscher Andreas Zick hält Prozentzahlen über die Verbreitung des Antisemitismus in Deutschland für wenig aussagekräftig. "Mich interessiert eigentlich viel mehr: Wer ist denn so antisemitisch? Und warum transportieren wir antisemitische Vorurteile so stabil über die Jahrzehnte?" Deutlich sei, dass ältere Menschen im Durchschnitt antisemitischer seien als jüngere, Arbeitslose mehr als Erwerbstätige.

Bei dem sogenannten sekundären Antisemitismus, also etwa der Haltung: "Die Juden versuchen jetzt, aus dem Holocaust Vorteile zu ziehen" gebe es auch unter gebildeten und sozial bessergestellten Deutschen große Zustimmung, sagt Zick. "Hier gibt es die Mentalität: Es muss doch mal gesagt werden können."

Ein Befund ist neu: Erstmals stimmen in Ostdeutschland laut Friedrich-Ebert-Stiftung mehr Befragte primär antisemitischen Aussagen zu - also judenfeindlichen Äußerungen, die sich nicht auf den Holocaust beziehen - als im Westen.

In welchen Milieus kommt Antisemitismus geballt vor?

Antisemitismus gibt es auch im islamistischen und linken und linksextremen Milieu. Forscher warnen allerdings davor, deshalb die überbordende Judenfeindlichkeit unter Rechtsextremen zu verharmlosen. Mehr als 90 Prozent der antisemitischen Straftaten werden nach wie vor von rechtsextremen Tätern verübt. Unklar sei noch, welche Rolle Hass auf Juden bei der Terrorzelle NSU spielte, sagt die Historikerin Juliane Wetzel vom Berliner Zentrum für Antisemitismusforschung.

"Jude" als schlimmstes Schimpfwort auf Schulhöfen, dort wo viele Migranten lernen - das ist ein Beleg für eine Entwicklung, die in den vergangenen Jahren für Schlagzeilen gesorgt hat. Laut der Studie "Deutsch-Türkische Lebens- und Wertewelten" meinen 18 Prozent der Deutschtürken, Juden seien minderwertige Menschen.

Im organisierten islamistischen Milieu geht es vor allem um die Delegitimierung des Existenzrechts Israels, aber es ranken sich auch zahlreiche Verschwörungstheorien etwa darum, dass die Anschläge vom 11. September 2001 von Juden verübt wurden. "In vielen Moschee-Gemeinden werden ungebremst antisemitische Haltungen verbreitet", sagt der Bielefelder Wissenschaftler Zick.

Forscherin Wetzel plädiert für weitere Untersuchungen, neben muslimischen Migranten müssten auch andere Einwanderergruppen in den Blick genommen werden. "Befragungen von Jugendlichen haben zum Beispiel ergeben, dass die heftigsten antisemitischen Sprüche von Russlanddeutschen kommen."

Judenfeindlichkeit kommt auch im linken politischen Spektrum vor - Solidarisierungen von Linksextremen mit Islamisten haben eine lange Tradition. Allerdings sei Judenfeindlichkeit hier anders als im Rechtsextremismus kein konstitutiver Bestandteil, so das Fazit der von der Bundesregierung eingesetzten Expertengruppe zu Antisemitismus.

Hat der Amerikaner Tenenbom mit seinem Befund recht?

Wissenschaftler Zick berichtet von einem beunruhigenden Ergebnis: Nur 16 Prozent hätten es in einer Umfrage geschafft, über die israelische Politik oder Juden zu urteilen, ohne auch nur einem von 16 antisemitischen Klischees zuzustimmen. "Wir unterschätzen unsere Anfälligkeit für antisemitische Stereotype", sagt der Forscher. Trotzdem habe sich etwas verändert in Deutschland. Es gebe eine gesellschaftliche Norm, dass Juden nicht abgewertet dürfen, zumindest bei Akademikern greife diese Norm relativ gut.

Aber wie viele Menschen sich bewusst gegen antisemitische Zuschreibungen wenden, also aktiv Widerstand dagegen bekunden - das ist bislang nicht ausführlich untersucht. Der Wissenschaftler Micha Brumlik von der Universität in Frankfurt sagt: "Die These, die Deutschen seien genauso antisemitisch wie 1933, sagt an sich noch nicht viel aus. Entscheidend ist die Haltung der Eliten - der Holocaust wäre ohne Ärzte, Juristen und Theologen nicht möglich gewesen. Die Frage ist, ob das heute noch genauso ist. Was den Antisemitismus betrifft wohl nicht, aber was mich umtreibt ist eine Form des Rassismus aus der Mitte, wie er auch in der Sarrazin-Diskussion zu Tage trat."

Für schädlich hält die Historikerin Juliane Wetzel Tenenboms These: "Es gibt Antisemitismus in Deutschland, aber dass wir auf dem Stand von 1933 sind, verharmlost und trivialisiert den Nationalsozialismus und die Judenverfolgung." Es gebe keinen staatlich propagierten Antisemitismus, insbesondere Kanzlerin Merkel habe sich immer wieder explizit gegen Antisemitismus gewandt und auch Streit mit der katholischen Kirche wegen des Holocaust-Leugners Williamson nicht gescheut.

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Wie sieht es in anderen europäischen Ländern aus?

In einer großen Studie verglich die Universität Bielefeld Antisemitismus in acht europäischen Ländern. Demnach sind die Deutschen antisemitischer als Briten, Franzosen, Italiener und Niederländer, aber weniger judenfeindlich als Polen, Ungarn und Portugiesen. Dabei haben die Forscher Verschwörungstheorien wie "Juden wollen die Welt erobern" in jedem Land festgestellt.

Bei anderen antisemitischen Haltungen gibt es Unterschiede: So sei in Deutschland und Frankreich die Zuschreibung sehr verbreitet, dass Juden aus ihrer Verfolgung im Nationalsozialismus einen Vorteil ziehen wollten. "In Polen hingegen wird Judenfeindlichkeit eher religiös begründet, Juden etwa als Christusmörder bezeichnet", sagt Wissenschaftler Zick.

Auch in skandinavischen Ländern grassiert Antisemitismus. Im südschwedischen Malmö explodierte Ende September vor dem jüdischen Gemeindezentrum ein Sprengsatz, verletzt wurde niemand. Mehrmals waren Juden in der Stadt zuvor bedroht und bedrängt worden.

Zuletzt ergab eine Untersuchung, dass fast 20 Prozent der norwegischen Bevölkerung der Behauptung "Die Juden der Welt arbeiten im Geheimen, um jüdische Interessen zu fördern" zustimmen oder eher zustimmen würden. "In den Niederlanden und in Skandinavien spielt zumindest für Migranten aus der Region des Nahen Ostens auch die Presse eine Rolle, die eine relativ einseitige propalästinensische Sicht vermittelt", sagt die Wissenschaftlerin Wetzel. "Für viele werden aus den Israelis schnell die Juden."

Auf schockierende Weise bricht sich in Frankreich der Antisemitismus Bahn, der unter einigen extremistischen muslimischen Migranten herrscht. Im März 2012 erschoss der aus Algerien stammende Mohammed Merah in Toulouse einen Rabbiner, seine zwei Kinder sowie ein weiteres Mädchen vor einer jüdischen Schule.

In Ungarn gibt es in Umfragen eine extrem hohe Zustimmung zu antisemitischen Stereotypen. Klassischen Verschwörungstheorien wie "Juden haben zu viel Einfluss" stimmten fast 70 Prozent der Befragten zu. Auch politisch hat sich diese Haltung längst niedergeschlagen: Die rechtsextreme Jobbik-Partei ist drittgrößte Kraft. Deren jüngster Vorstoß: Alle Juden im Land müssten registriert werden.

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