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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Abschiedsrede beim Parteitag "Das zeigt, wer Joe Biden ist"
Bei seiner Rede auf dem Parteitag der Demokraten zeigt sich Joe Biden emotional und angriffslustig. Ein Experte analysiert den Auftritt für t-online.
Feierstimmung bei den US-Demokraten: Die Umfragen sehen aktuell gut aus. Beim Parteitag soll am Ende der Woche Kamala Harris offiziell ihre Nominierung als Präsidentschaftskandidatin annehmen.
Davor befasst sich die Partei mit ihrer Vergangenheit und Gegenwart: Präsident Joe Biden hielt am Montagabend Ortszeit eine einstündige Rede. Was der Auftritt des 81-Jährigen über ihn, seine Partei und seine Nachfolgerin an der Spitze der Demokraten aussagt, erklärt US-Experte David Sirakov im t-online-Interview.
t-online: Herr Sirakov, Joe Biden wirkte entschlossen, kraftvoll, emotional. Viele haben noch seinen schwachen Auftritt in der Debatte gegen Donald Trump im Kopf. Waren Sie von ihm überrascht?
David Sirakov: Nein. Wir haben in diesem Jahr bereits diesen kraftvollen Joe Biden gesehen, unter anderem bei seiner Rede zur Lage der Nation vor dem Kongress Anfang März. Dort zeigte er sich kämpferisch und scheute auch nicht davor zurück, die Republikaner direkt anzugehen. Auf dem Parteitag hat er genau diese Haltung und das Engagement gezeigt. Gleichwohl kam die Diskussion über sein Alter nicht grundlos auf. Immer wieder sehen wir seine recht steifen Bewegungen, seine "verwaschene" Aussprache und die Pausen in seinen Reden, in denen er wie eingefroren wirkt.
First Lady Jill Biden hat eine emotionale Rede über ihren Ehemann gehalten, auch darüber, wie sehr er mit sich gerungen habe, bevor er entschied, nicht wieder anzutreten. Ist das sein Vermächtnis?
Ich glaube, das zeigt, wer Joe Biden ist: Er ist ein liebender Ehemann, Vater und Großvater. Die Rolle seiner Familie betont er immer wieder, und natürlich steht sie dann auch im Zentrum einer "Abschiedstour", die mit diesem Parteitag beginnt. Und sein politisches Vermächtnis ist riesig. Nicht nur die Gesetzespakete, die er als Präsident in den vergangenen dreieinhalb Jahren unterzeichnet hat, sondern auch die 36 Jahre im US-Senat.
Zur Person
David Sirakov ist Politikwissenschaftler und Direktor der Atlantischen Akademie Rheinland-Pfalz, einer Bildungseinrichtung mit Fokus auf die transatlantischen Beziehungen. In seiner Forschung beschäftigt er sich mit der US-Innenpolitik, mit besonderem Schwerpunkt auf die politische und gesellschaftliche Polarisierung und den Aufstieg des Populismus in Europa und den USA sowie die Außenpolitik der USA.
Biden machte im Gegenzug seiner Frau eine ausführliche Liebeserklärung. Ist das strategisch oder ist das der echte Familienmensch Joe Biden?
Es ist beides. Wie bereits gesagt, spielt die Familie in Bidens Leben immer eine sehr wichtige Rolle und sie war zugleich auch stets ein Teil seiner politischen Karriere. Er spiegelt damit ein Stück weit die Erfahrungen von amerikanischen Familien: Durch einen Autounfall verlor er Anfang der 1970er-Jahre seine erste Frau Neilia und die gemeinsame Tochter Naomi. Sein Sohn Beau, der ein Jahr im Irak stationiert war, starb mit 46 Jahren an Krebs. Sein Sohn Hunter und seine Tochter Ashley gerieten auf die schiefe Bahn, waren alkohol- sowie drogenabhängig. Hunter wurde aufgrund seiner geschäftlichen Beziehungen wiederholt zur Zielscheibe republikanischer Attacken. Joe Biden thematisierte gerade diese Schicksalsschläge und machte die alles überragende Bedeutung der Familie deutlich.
Bidens Tochter Ashley sprach direkt vor Joe Biden und holte ihn dann auf die Bühne. Sie war bisher nicht oft im Blickfeld der Öffentlichkeit. Warum heute?
Ashley hat auch schwierige Zeiten durchgemacht, die in der Öffentlichkeit ausgebreitet wurden. Es war vielleicht auch der Moment, das Verhältnis von Ashley zu ihren Eltern im richtigen Licht darzustellen.
Als er auf die Bühne kam, weinte Joe Biden. Die Halle skandierte "We love Joe", fast fünf Minuten gab es stehende Ovationen. Was bedeutet dieser Moment für ihn, was für die Partei?
Es war ein sehr wichtiger Moment. Wenn die Berichte über den schwierigen Abwägungsprozess, der zu seinem Rückzug führte, zutreffen, dann war für Joe Biden der Zusammenhalt in der Partei das ausschlaggebende Argument. Wenn das Festhalten an der Kandidatur nicht zur Zerreißprobe für die Demokraten geworden wäre, würden wir wohl in diesen Tagen der Nominierung Bidens beiwohnen. Das frenetische Feiern des 46. Präsidenten durch die Delegierten hat ihn sicherlich mit der einen oder anderen Enttäuschung der vergangenen Wochen versöhnt.
- "Danke, Joe!": So war Bidens Rede auf dem Parteitag
Biden erinnerte in seiner Rede an den Angriff aufs Kapitol durch Trump-Anhänger im Januar 2021. Er sagte aber auch: Ich blicke in die Zukunft. Dabei sprach er verhältnismäßig wenig über Außenpolitik, obwohl die ja eigentlich seine Kernkompetenz ist. War das eine "normale" Biden-Rede oder angepasst an den Anlass?
Wenn es um die Präsidentschaftswahl in den USA geht, spielen außenpolitische Themen eine nachgeordnete Rolle. Ausnahmen wie der Irakkrieg bestätigen da eher die Regel. Deshalb war es für Joe Biden offenkundig wichtig, die innenpolitischen Errungenschaften wie das Infrastrukturpaket, die Schaffung von 16 Millionen Jobs oder auch die Einigung mit den Pharmaunternehmen bezüglich günstigerer Medikamentenpreise in den Vordergrund zu stellen. Die Außenpolitik war aber nicht völlig abwesend. Er erwähnte den Kampf der Ukraine um ihre Unabhängigkeit und das US-Engagement. Und er nutzte seine internationale Erfahrung, um Trumps Rhetorik, in der dieser die USA als "scheiternde Nation" darstellt, frontal anzugreifen.
Biden sprach in seiner Rede einen Schlüsselsatz: "Ich liebe den Job, aber ich liebe das Land mehr." Glauben Sie, dass er seinen Frieden mit dem gemacht hat, was in den letzten Wochen rund um seine Person passiert ist?
Dieser Abend war sicherlich ein guter Anfang. Aber der Prozess wird noch andauern. Ein Sieg von Kamala Harris und Tim Walz am 5. November wäre wahrscheinlich der wichtigste und versöhnlichste Moment.
Der Abschied von Biden bedeutet auch endgültig die Wende hin zu Harris. War das die Übergabe des Staffelstabes?
Ja. Als nichts anderes ist dieser Parteitag konzipiert. Innerparteilich ist die Nominierung bereits durch ein Online-Votum der Delegierten Anfang August vollzogen worden. Es braucht aber eine öffentlichkeitswirksame Inszenierung dieser Übergabe.
Was hat Harris unter Biden gelernt?
Für Kamala Harris waren die vergangenen dreieinhalb Jahre als Joe Bidens Vizepräsidentin sicherlich politisch wie charakterlich prägend. Aus den politischen Erfolgen, die trotz oppositioneller Mehrheiten im Repräsentantenhaus erreicht wurden, konnte sie auch Lehren über das politische Prozedere in Washington ziehen.
Wird sie auf Bidens Vermächtnis, das er in dieser Rede noch mal vorgestellt hat, aufbauen oder politisch ihren eigenen Weg gehen?
Beides. Als Vizepräsidentin muss sie zu einem gewissen Teil Bidens Vermächtnis weiterführen, aber eben mit den eigenen Akzenten. Sie wird – auch aufgrund ihres ganz persönlichen Werdegangs – andere Prioritäten setzen. Angesichts der drängenden Herausforderungen in den USA, zu denen die Einwanderungs- und die Wirtschaftspolitik zählen, muss sie Lösungsvorschläge entwickeln und sie im Wahlkampf offensiv vertreten.
Herr Sirakov, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.
- Interview mit David Sirakov