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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Grundsatzurteil zu Abtreibungen Erfüllen diese Richter den Plan der Trump-Anhänger?
Bald schon könnte das höchste Gericht der USA das seit Jahrzehnten gültige Abtreibungsgesetz kippen. In vielen Bundesstaaten wären Schwangerschaftsabbrüche dann verboten – mit unabsehbaren Folgen.
Abtreibungen, ja oder nein? Bei kaum einer Frage wird der Riss zwischen Konservativen und Liberalen in der amerikanischen Gesellschaft so deutlich wie bei diesem Thema. In den kommenden Monaten wird das höchste Gericht des Landes, der Supreme Court, mindestens eine richtungsweisende Entscheidung treffen, die die Legalität von Abtreibungen auf Jahrzehnte beeinflussen könnte.
Dass das Thema überhaupt wieder verhandelt wird, werten Experten als Folge eines lang gehegten Plans der Republikaner und als Folge der Amtszeit von Ex-Präsident Donald Trump. Stürme der Entrüstung und heftige Debatten dürften dem Land so oder so erneut sicher sein.
Jüngst manifestierte sich der Streit um das Abtreibungsrecht in dem von Republikanern regierten Bundesstaat Texas. Dort sieht ein neues Gesetz, der sogenannte "Texas Heartbeat Act" vor, Schwangerschaftsabbrüche schon ab dem Moment, in dem beim Fötus ein Herzschlag gemessen werden kann – also teilweise schon ab der sechsten Schwangerschaftswoche – zu verbieten.
Die US-Regierung unter dem demokratischen Präsidenten Joe Biden klagte dagegen und gewann. Das Gesetz wurde ausgesetzt. Doch die Freude der liberalen Kräfte im Land war nur von kurzer Dauer. Die texanische Regierung ging in die nächste Instanz und erreichte nur wenige Tage später die Reaktivierung des Gesetzes. Die US-Regierung möchte den Fall nun vor den Supreme Court bringen.
Gesetz sichert das Recht auf Abtreibung
Das könnte jedoch noch dauern, eine andere richtungsweisende Entscheidung wird wohl vorher fallen. Im Dezember startet das Gericht eine Anhörung zu einem Gesetz aus Mississippi. Eine fast 50 Jahre alte Grundsatzentscheidung, die das Recht auf Abtreibung in den Vereinigten Staaten bislang sicherstellte, steht dabei auf dem Spiel. Zahlreichen Frauen könnte die Möglichkeit auf eine Abtreibung schlagartig verwehrt werden.
Die erwähnte Grundsatzentscheidung des Supreme Courts ist in den USA bekannt unter dem Namen "Roe v. Wade", ein Fall aus dem Jahr 1973. Damals urteilte das höchste Gericht, dass bundesweit das Recht auf Abtreibung bis zu dem Moment bestehen solle, ab dem ein Fötus überlebensfähig ist, also meist ab der 22. bis 24. Schwangerschaftswoche. Gesetze wie jenes in Texas konnten deshalb bislang verhindert werden. Bestrebungen, diesen Grundsatzentscheid zu kippen, hat es in den USA immer wieder gegeben, jedoch nie erfolgreich. Bislang.
"Roe gegen Wade" auf der Kippe
Das Gesetz aus Mississippi sieht vor, alle Abtreibungen ab der 15. Schwangerschaftswoche zu verbieten. Niedrigere Instanzen hatten dieses bereits seit 2018 bestehende Gesetz mit Berufung auf "Roe gegen Wade" kassiert.
Die Gesetzesmacher wollen nun erwirken, dass der Supreme Court seine Grundsatzentscheidung kippt. Allein dass das Gericht die Klage aus Mississippi überhaupt anhört, ist eine bemerkenswerte Entwicklung, die den liberalen Kräften im Land Sorgen bereitet. Neue Argumente, die für eine Rücknahme der Entscheidung von 1973 sprechen, gibt es schließlich nicht. Doch die Zusammensetzung des Supreme Courts hat sich in den vergangenen Jahren stark verändert.
Der Supreme Court ist konservativer geworden
Wird ein Richterposten dort durch Tod oder Rücktritt des Amtsinhabers vakant, hat der amtierende US-Präsident das Recht, einen Nachfolger vorzuschlagen. Nach einer Anhörung obliegt es dem US-Senat, diesen Vorschlag anzunehmen oder abzulehnen. Der republikanische Ex-Präsident Donald Trump konnte gleich drei neue Richter nominieren und diese mithilfe einer republikanischen Mehrheit im Senat auch durchsetzen.
Trumps erste Neubesetzung wurde nur durch Taktieren der Republikaner möglich. 2016 starb der Richter Antonin Scalia. Der damals amtierende demokratische Präsident Barack Obama schlug den als liberal geltenden Merrick Garland für dessen Nachfolge vor. Die republikanische Mehrheit im Senat blockierte die Personalie jedoch monatelang. Dann kam die Präsidentschaftswahl, Trump gewann und setzte mit Neil Gorsuch einen konservativen Nachfolger für Scalia durch.
Trumps zweite Neubesetzung war der ebenfalls konservative Brett Kavanaugh. Er ersetzte den in den Ruhestand gegangenen Richter Anthony Kennedy. Dieser galt als moderater Richter und als vorsichtiger Befürworter des Abtreibungsrechts.
Die dritte Neubesetzung peitschten Trump und der republikanische Senat quasi im Eilverfahren nur wenige Wochen vor der Präsidentschaftswahl 2020 durch. Amy Coney Barrett ersetzte die verstorbene Richterin Ruth Bader Ginsburg. Bader Ginsburg galt als eine liberale Ikone, die das Recht auf Abtreibung als essenziell für die Gleichberechtigung und die Autonomie der Frau ansah.
Von langer Hand geplant
Von den insgesamt neun Richtern am höchsten Gericht gelten nun sechs als eher konservativ. Dem stehen nur noch drei eher liberale Richter entgegen.
Prof. Dr. Kirk Junker vom Lehrstuhl für US-amerikanisches Recht an der Universität Köln sieht darin die Verwirklichung einer von langer Hand geplanten Strategie der Republikaner. "Diese Ernennungen wurden oft als strategische Strukturierung des Gerichts für ein einziges Thema diskutiert – die Aufhebung von 'Roe gegen Wade'", sagt Junker t-online.
Die Abtreibungsgegner in den USA hätten offensichtlich beschlossen, dass sie ihr Ziel so am besten erreichen könnten: Indem die Bundesstaaten Gesetze erlassen und diese vor dem Bundesgerichtshof anfechten lassen, sodass der von Trump neu besetzte Supreme Court die Gelegenheit bekommt, "Roe gegen Wade" aufzuheben, meint der US-Rechtsexperte.
Plötzlich illegal
Die Strategie der Republikaner scheint aufzugehen: Erst nach der Ernennung Barretts beschloss das Gericht nach langer Beratung, die Klage aus Mississippi überhaupt anzuhören. Ein Indiz dafür, dass das jetzt deutlich konservativere Gericht tatsächlich erwägt, "Roe gegen Wade“ zu kippen.
Geschieht dies, könnte es zu einer Kettenreaktion kommen: Zahlreiche republikanisch regierte Bundesstaaten – vornehmlich im konservativen Süden und mittleren Westen des Landes – bereiten sich schon seit Jahren auf einen solchen Urteilsspruch vor. Sie haben sogenannte "Trigger-Laws“ verabschiedet.
"'Trigger-Laws' sind Gesetze, die zwar erlassen, aber nicht durchgesetzt werden. An sich sind sie rechtswidrig, aber der Gesetzgeber kann vorhersehen, dass sich die Auslegung der Verfassung in naher Zukunft ändern wird, sodass die Gesetze dann legal werden und durchgesetzt werden können", erklärt Junker. Sollte "Roe gegen Wade" also tatsächlich vom Supreme Court gekippt werden, würden quasi über Nacht in zahlreichen Bundesstaaten Gesetze in Kraft treten, die Abtreibungen nahezu gänzlich verbieten.
Ist der Supreme Court nicht unabhängig?
Doch wie wahrscheinlich ist dieses Szenario? Sind die Richter des Supreme Courts wirklich so politisch? "Die Richter sind tatsächlich unabhängig. In der Vergangenheit war es oft so, dass die Richter nach ihrem Gewissen handelten und unabhängig vom Präsidenten, der sie ernannt hat, oder vom Senat, der sie bestätigt hat, nach Recht und Gesetz über einen Fall entschieden", sagt Junker. Das habe sich aber geändert. "Das Gericht stimmt jetzt sehr oft nach einem vorhersehbaren konservativ-liberalen Diktat ab und ist in diesem Sinne viel politischer als früher." Aber jeder Richter könne nach wie vor nach eigenem Gutdünken entscheiden, ohne dass dies Konsequenzen nach sich ziehe.
Tatsächlich schmetterte der Supreme Court noch in diesem Jahr mit einer Mehrheit von 7:2 den Versuch mehrerer republikanischer Bundesstaaten ab, das unter dem Namen "Obamacare" bekannt gewordene Krankenversicherungsgesetz aufzuheben. Ein ähnliches Szenario, bei dem einige Richter auch bei "Roe gegen Wade" nicht gemäß ihrer konservativen Neigung entscheiden, kann also keineswegs ausgeschlossen werden.
Die liberalen Kräfte im Land werden sich an diese Hoffnung klammern. Wie auch immer die Entscheidung des Supreme Courts am Ende ausfällt, es wird in den USA erneut zu massiven Protesten kommen. Egal, ob am Ende Abtreibungsbefürworter oder deren Gegner auf die Straße gehen. Der Riss zwischen Konservativen und Liberalen in der stark polarisierten amerikanischen Gesellschaft wird wohl ein weiteres Mal deutlich zutage treten.
- Interview mit Prof. Dr. Kirk Junker
- Washington Post: In political spotlight, Supreme Court embarks on extraordinarily controversial term
- New York Times: Supreme Court, Breaking Silence, Won't block Texas Abortion Law