Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.
Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.US-Vizepräsidentin Die unsichtbare Macht der Kamala Harris
Superheldin oder Superschurkin? Kamala Harris wird im Weißen Haus sehr viel Macht nachgesagt. Dabei hat die Vizepräsidentin ihre ganz eigenen Probleme.
In Washington drücken manche Sätze nur auf den ersten Blick eine Selbstverständlichkeit aus. Nehmen wir diesen: Der Präsident ist tatsächlich der Präsident. Klingt banal, und doch hat dieser Befund manche Beobachter ziemlich überrascht.
Denn eigentlich, so war es im Wahlkampf und im Kampf nach der Wahl oft zu hören, sei doch Joe Biden nur eine altersschwache Marionette, während im Weißen Haus faktisch die formelle Vizepräsidentin die Strippen ziehen werde. Kamala Harris, die wahre Präsidentin.
Die Vorstellung kursiert nicht nur bei rechten Gegnern, sondern auch bei manch linkem Unterstützer. Es gibt zwei Versionen: Entweder werde Biden, der nur aus der Rente kam, um Donald Trump zu vertreiben, kurz nach Amtseinführung abdanken und Harris offiziell als Präsidentin übernehmen. Oder Biden werde zwar amtieren, aber nur einen besseren Grüßaugust geben, während Harris den Kurs der Regierung bestimme.
Neulich hörte ich die zweite Variante wieder einmal auf Fox News: Der allabendliche Provokateur auf dem 20-Uhr-Programmplatz, Tucker Carlson, raunte von “President Harris”, einer Amerika-hassenden Superschurkin, die hinter den Kulissen die Kommandos gebe.
In der Realität ist es allerdings so, dass der vermeintlich müde und ideenlose Joe Biden selbst gewaltige Ambitionen entwickelt hat, als großer Reformer in die Geschichte einzugehen, Ton und Richtung im Weißen Haus vorgibt und Kamala Harris immer irgendwie dabei ist, aber ziemlich farblos bleibt. Superschurkin, Superheldin, Supermächtig? Superblass!
Kein Satz, keine Tat der Vizepräsidentin hat sich bislang eingebrannt, nur eine Szene, zu der ich noch komme. Das hat mit Harris selbst zu tun, aber auch mit dem Amt.
Viele haben die Politikerin Harris überschätzt, weil die Person Harris so etwas Großes symbolisiert: die gewaltigen Machtverschiebungen unserer Zeit.
Sie ist die erste Vizepräsidentin der US-Geschichte. Mit einem Vater aus Jamaika und einer Mutter aus Indien ist sie zugleich die erste schwarze Amerikanerin und die erste Asian-American im zweithöchsten Amt. Solche Dinge sind vielen Leuten gerade sehr wichtig (während manch andere sich an diesem Umstand sehr stören). Kein Text, der das nicht erwähnt. Doch da ist noch etwas.
In einem Washington, in dem ein 78-Jähriger regiert, der im Jahre 1972 in den Senat gewählt wurde, die Nummer drei im Staate, Nancy Pelosi, 81 Jahre alt ist und einige einflussreiche Senatoren schon Vorbereitungen für ihren 90. Geburtstag treffen, wirkt die Nummer zwei, 56 Jahre alt und erst seit 2017 in Washington, jung und frisch. Sie kultiviert selbst das Image einer Frau, die etwas frischen Wind in die Politik bringt, allzu gern, indem sie etwa ihre mittlerweile berühmten Chucks trägt.
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Deshalb gibt es gerade unter jungen Frauen diesen Kamala-Hype, den ich – ich schrieb hier einst darüber – schon 2018 bei einer Fahrstuhlfahrt im Kapitol bezeugen konnte, bei der eine junge Frau ihre “Heldin” regelrecht hinausschrie.
Das alles passt allerdings überhaupt nicht zur Rolle einer Vizepräsidentin. Der oder die Vize steht nicht für sich selbst oder andere, sondern für den Präsidenten.
Das Reich des VP ist das EEOB. Das Eisenhower Executive Office Building liegt zwar nur, je nach Route, 30 Sekunden oder 1 Minute 30 Fußmarsch vom West Wing entfernt, und doch ist es eine andere Welt.
In der bitterbösen Sitcom “Veep” wurde das jahrelang herrlich dargestellt. Eine ehrgeizige Vizepräsidentin, die trotz der kurzen Wege nie den Präsidenten zu Gesicht bekommt und für die das EEOB zu ihrem Minderwertigkeitsbürokomplex wird, während selbst der unbedeutende Assistent des Präsidenten bei jedem Besuch prahlt, dass er gerade aus dem West Wing kommt. Überdreht, klar, aber ehrlich gesagt näher an der Realität als die Vorstellung einer alle Strippen ziehenden Präsidentin Harris.
Ein Vize bekommt nur die Macht, die der Präsident ihm gewährt. Biden hebt Harris hervor, damit sie an Statur gewinnt, besonders in der Außenpolitik. Er ließ sie separat Südkoreas Moon im EEOB treffen, übertrug ihr ein Telefonat mit Frankreichs Macron, und die Gespräche mit den südlichen Nachbarn zum Flüchtlingsandrang an der Grenze. Dorthin führt sie kommende Woche ihre erste Auslandsreise.
Am Donnerstag traf ich einen Mann zum Kaffee, der sich so viel wie kaum jemand mit Harris beschäftigt. Noah Bierman ist einer der White-House-Korrespondenten für die Los Angeles Times und schreibt seit Monaten nur noch über die VP. Er arbeitet eben für die größte Zeitung in Harris’ Heimat Kalifornien.
“Sie hat ihre Rolle noch nicht ganz gefunden”, sagte er mit der Zurückhaltung, die amerikanische Zeitungsreporter auszeichnet. “Vielleicht passiert hinter den Kulissen aber auch etwas, was wir noch nicht wissen.”
Biden hatte versprochen, dass seine Vizepräsidentin bei wichtigen Entscheidungen immer “die letzte im Raum” sein werde. Doch jetzt, nach den ersten Monaten, mehren sich die Geschichten in der Hauptstadt über Bidens wahre Vertraute, eine Handvoll politischer Freunde, die ihr Bündnis über Jahrzehnte geschmiedet und gestählt haben. “Dort fallen die wahren Entscheidungen und Harris ist nicht dabei”, so sagte es Bierman.
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Er erzählte, dass er am Vortag erst mit Harris telefoniert hatte, ein seltenes Gespräch, das nach viel Hin und Her für fünf bis sieben Minuten angesetzt war, und dann doch immer knapp zehn dauerte. Sonst macht sie sich rar. Biermans Prognose: “Sie wird bald mehr Freiheiten haben, doch sie war immer sehr vorsichtig und ich glaube nicht, dass sich ihr Stil groß ändern wird.”
Ich kann es in einer Meinungskolumne etwas unverblümter ausdrücken: Harris ist nicht nur vorsichtig, sie spricht als Vizepräsidentin oft in Phrasen, in Schlagworten der Großstadtlinken, und fast nie mit Momenten der Spontaneität.
Mir fiel das auf, als ich die einstige Präsidentschaftskandidatin Harris 2019 in Iowa begleitete. Sie hatte einen imposanten Start vor 20.000 Anhängern im heimischen Oakland, doch außerhalb Kaliforniens gelang es ihr nie, eine wirkliche Verbindung zu wichtigen Wählergruppen aufzubauen.
Man wusste einfach nicht, wofür sie stand. Sie traf auch nicht den richtigen Ton. Im Wahlkampf erzählte die frühere Staatsanwältin, sie wolle den “Fall Donald Trump zur Anklage bringen” und die nächtlichen Sorgen der Menschen lösen, es war ihr sogenannter “3-Uhr-morgens-Plan”. Es waren talking points, denen man anmerkte, wie sie am Schreibtisch von Beratern ersonnen worden waren.
Manches von damals erkenne ich bei der Vizepräsidentin wieder. Von ihren ersten Monaten im Weißen Haus ist kein Satz im Gedächtnis geblieben, stattdessen eher ihre Präsenz. Ihr Schlüsselmoment ereignete sich bei Bidens erster Rede vor dem Kongress, als hinter ihm die Nummer zwei und drei des Staates saßen, mit Harris und Pelosi erstmals zwei Frauen. Harris verkörpert eben die Diversity, die den Demokraten derzeit sehr und Biden relativ wichtig ist. Also wieder: ein Symbol.
Deshalb eignet sie sich auch für die Gegenseite, der das Reden über Gleichberechtigung, Rassismus und die Repräsentanz der Minderheiten mächtig gegen den Strich geht, hervorragend als Feindbild. Sie bietet ganz andere Angriffspunkte als der alte weiße Mann im Oval Office.
Es kann natürlich noch was werden mit “President Harris”. Ihre Ambitionen auf das höchste Amt sind klar, und auch wenn Biden so tut, als wolle er 2024 noch einmal antreten, rechne ich nicht damit. Der gute Mann wäre dann 82.
Doch erst einmal muss die Vizepräsidentin ihre eigenen Ambitionen tunlichst verbergen und ihre Rolle als treueste Gehilfin erfüllen.
Sie hat auch zwei ganz eigennützige Gründe, Biden zu unterstützen: Nur wenn dessen Regierung in den Augen einer Mehrheit einen guten Job macht, hat sie eine gute Chance gewählt zu werden.
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Und auch nur, wenn sie die volle Unterstützung ihres Präsidenten erhält. Wie wichtig das ist, hat Biden selbst erfahren. Er wollte bereits 2016 antreten und bat seinen Präsidenten damals um öffentliche Unterstützung. Doch Obama schwieg, Biden kniff und es kamen Clinton und Trump.
Und dann muss Kamala Harris noch eine Kleinigkeit beweisen: dass sie doch Wahlkampf kann. Sie muss eine Sprache finden für jene, die sie weder als Superheldin verehren noch als Superschurkin abgestempelt haben. Also für die ganz normalen Amerikaner. Ein bisschen Zeit hat sie ja noch.