Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.
Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.Post aus Washington Trump sorgt sich um die Wiederwahl, Obama um die Demokratie
Donald Trump sorgt sich um die Wiederwahl, Barack Obama um die ganze US-Demokratie. Während Amerika um einen Helden trauert, zeigt sich, woran sich die kommende Präsidentschaftswahl wirklich entscheidet.
Während der Sommerpause der Kolumne habe ich mir einen besonderen Luxus geleistet: Ich habe jenen Alarm auf meinem Handy ausgeschaltet, der jedes Mal summt, wenn Donald Trump einen Tweet absetzt. Das kann zwanzig Mal pro Tag passieren, wenn es gut läuft, oder manchmal auch zweihundert Mal. Ich nahm mir Trump-Alarm-frei und las ein wunderbares Buch, mit dem man das zerrissene Amerika des Jahres 2020 besser versteht.
Das Buch stellte Amerikas Geschichte ehrlicher dar als viele andere. Was ich mit ehrlich meine? Dass das Dunkle hier stets neben dem Hellen stand, dass die Widersprüche des Experiments Amerika von Anfang an kaum auszuhalten waren: Freiheit und Sklaverei, Gleichheit und Unterdrückung, Selbstbestimmung und Vertreibung, Vernunft und Paranoia. Und dass die abgrundtiefe Spaltung des Landes, die einen heute so staunen lässt, mehr Regel als Ausnahme ist. (Ich kann Ihnen das Buch der Harvard-Historikerin Jill Lepore wirklich empfehlen, es ist auch auf Deutsch erschienen.)
Als Klammer dient der Autorin eine Frage, die der schillerndste der Gründerväter, Alexander Hamilton, bei der Erarbeitung der Verfassung stellte: Kann sich das Volk durch vernünftige Überlegung und Wahlen selbst eine gute politische Ordnung geben? Oder entscheiden am Ende doch Zufall, Täuschung und Gewalt über die Macht? Keine schlechte Frage für Amerika im Jahr 2020.
Zurück in Washington leistete ich mir am Montag den Luxus, den Trump-Alarm noch ausgeschaltet zu lassen. Ich verpasste also zehn Mitteilungen des Präsidenten zum vermeintlichen Corona-Wundermittel Hydroxychloroquin und seine Verbreitung des Auftritts einer seltsamen Ärztin aus Texas, deren Expertise sonst in Predigten über Dämonensperma und Alien-DNA liegt und die nun verkündete: “Niemand muss krank werden” – dank, genau, Hydroxychloroquin.
Stattdessen ging ich zum Kongress, wo ein amerikanischer Held aufgebahrt lag. Mit dem Wort Held darf man vorsichtig sein, doch bei John Lewis, der sich in den Sechzigern von den Rassisten verprügeln ließ, die friedliche Bürgerrechtsbewegung prägte und später als "Gewissen des US-Kongresses" galt, ist das ganz sicher keine Übertreibung. Lewis' Sarg lag auf den Stufen des Kapitols, das einst Sklaven gebauten hatten, und Washington stand Schlange, um sich aus der Distanz zu verabschieden. Ein rührender Moment.
In der Sommerpause war Trumps “Kurswechsel” in Sachen Corona verkündet worden, doch nach ein paar Minuten seiner Pressekonferenz am Dienstag war mir klar, dass sich nichts geändert hat. Sein Tenor: Wir machen einen Bombenjob, nächstes Jahr wird großartig und warum bitte schön hat denn Experte Fauci so gute Werte, aber, Zitat, “niemand mag mich”?
Es war plötzlich wieder März. Damals hatte Trump die gleichen verheerend verharmlosenden Corona-Auftritte zelebriert. Nur dass mittlerweile die US-Totenzahlen auf mehr als 150.000 gestiegen sind.
Am Mittwoch wurde Trumps Truppenabzug aus Deutschland verkündet. Ich staunte, wie Pentagon-Chef Esper und seine Generäle Trumps Lust an der Bestrafung Deutschlands, die die USA Milliarden Dollar kosten wird, den Anstrich einer neuen Militärstrategie verpassen mussten. Kurz nach dem Auftritt rief ich Mark Hertling an, einen pensionierten Drei-Sterne-General, der früher die US-Armee in Europa befehligte. Hertling saß in Florida und musste sich erst einmal sammeln. "Was wird nur aus Grafenwöhr, was wird aus Kaiserslautern", sagte er mehr zu sich als zu mir. "Was wird aus Wiesbaden, da ist doch alles noch brandneu. Es ergibt für mich alles keinen Sinn." Ich glaube, er stand unter Schock.
Am Donnerstag schaffte Trump es wieder einmal mit einem einzigen Tweet, die weltweite Öffentlichkeit in einen ähnlichen Zustand zu versetzen. (Ich hatte meinen Twitter-Alarm rechtzeitig wieder angeschaltet.) Sein Raunen, dass die Stimmabgabe per Briefwahl dem Betrug Tür und Tor öffnen würde und man deshalb vielleicht die Präsidentschaftswahl verschieben müsse, ging in einem Wimpernschlag um die Welt.
Trump hat dazu zwar keine Befugnis, aber das spielte in diesem Moment keine Rolle. Der Tweet war ein klassischer Taschenspielertrick mit den Elementen Ablenkung und Zweifel säen. 15 Minuten vor dem Tweet kamen nämlich die desaströsen Wirtschaftszahlen zum 2. Quartal, vielleicht die Sache, die Trumps Wiederwahl am meisten gefährdet.
Wie praktisch, dass er mit seinem Wahltagstweet umgehend wieder die öffentliche Debatte kontrollierte. Bei der "Washington Post" löste der Wahltermin prompt die Wirtschaftskrise als meistgelesene Geschichte ab.
Zum anderen war der Tweet Ausdruck seiner Strategie, schon jetzt möglichst viele Zweifel am Wahlprozess zu säen, für den Fall einer Niederlage oder eines unklaren Ergebnisses.
Amerikas Demokratie war immer geprägt vom Kampf darum, wessen Stimme zählt und wessen nicht. Der Erfindungsreichtum jener, die Minderheiten von der Urne fernhalten wollen, ist unbegrenzt. Trump ist einer von ihnen. Es wird vielleicht die wichtigste Auseinandersetzung bei der Wahl 2020.
Kurz darauf begann in Atlanta die letzte der Trauerfeiern für den amerikanischen Helden John Lewis. Unter den Rednern: Bill Clinton, George W. Bush, Barack Obama. (Trump blieb auch dieser Feier fern.)
Obama, der seinem Ruf als packender Redner wieder gerecht wurde, riss die Trauernden von den Sitzen. Was hatte er gesagt? Er schlug den Bogen von Lewis’ Kampf in den Sechzigern für Gleichberechtigung zu unserer seltsamen Zeit, ausdrücklicher als erwartet.
Interessieren Sie sich für die US-Wahl? Unser Washington-Korrespondent Fabian Reinbold schreibt über seine Arbeit im Weißen Haus und seine Eindrücke aus den USA unter Donald Trump einen Newsletter. die dann einmal pro Woche direkt in Ihrem Postfach landet.
Er pickte sich zwei Rassisten aus Lewis’ Heimat Alabama raus, die das ganze Land kennt: Bull Connor, den berüchtigten Polizeichef aus Birmingham, der Kampfhunde auf Schüler hetzte. Und George Wallace, der Gouverneur, der seine Polizisten Lewis und Co. zusammenprügeln ließ.
Obama: "Bull Connor mag fort sein, aber heute sehen wir mit eigenen Augen die Polizisten auf dem Hals schwarzer Amerikaner knien. George Wallace mag fort sein, aber wir sehen die Bundesregierung Beamte mit Tränengas und Schlagstöcken gegen friedliche Demonstranten vorgehen." Dann zählte er auf, mit welchen Tricks “jene an der Macht” versuchten, Schwarzen und anderen Minderheiten das Wählen zu erschweren.
Der Ex-Präsident überlegt ganz genau, bevor er seinen Nachfolger öffentlich kritisiert, auch wenn er seinen Namen nicht erwähnte. Mein Eindruck: Obama macht sich große Sorgen um die US-Demokratie. Tja, wer, der mit einem halbwegs klaren Blick auf das Land schaut, tut das nicht?
Und so kam an diesem Donnerstag wieder alles zusammen in Amerika: Vergangenheit und Gegenwart, das Dunkle und das Helle. Gleichheit und Unterdrückung.
Der Kampf darum, wessen Stimme zählt, und auch die alte Frage des jungen Gründervaters Hamilton, ob das Volk sich über Vernunft und Wahlen selbst gut regieren kann. Oder ob am Ende doch Zufall, Täuschung und Gewalt über die Macht entscheiden.
Es sind noch 94 Tage bis zur Wahl.