Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.
Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.CDU in der Spätphase Merkel Das gefährliche Vakuum im Kanzleramt
Warum schweigt die Kanzlerin, wenn sie reden sollte? Vielleicht sieht sie die Notwendigkeit nicht, vielleicht fehlt ihr die Kraft. Für ihre Partei wie für das Land wäre es besser, wenn sie früher ginge.
Am vorigen Donnerstag hielt Wolfgang Schäuble im Bundestag eine bemerkenswerte Rede über die Morde von Hanau. Er rief die Politik zu aufrichtiger Selbstkritik auf, er nannte das Klima in Deutschland vergiftet. Die Hasser und Hetzer stünden "jenseits jedes bürgerlichen Anstands und außerhalb unserer demokratischen Ordnung". Bei der langen Spur mörderischer Übergriffe handle es sich um Terrorismus.
Gut gesprochen. Fällige Worte. Gut, dass wir so einen Bundestagspräsidenten haben. Besser noch, hätte die Kanzlerin diese Rede gehalten.
Beim Kondolenzakt in Hanau hatte Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier die Hauptrede gehalten. Reden ist seines Amtes. Davon macht er reichlich Gebrauch, und ich jedenfalls höre ihm aufmerksam zu. Er drängt sich nicht vor, glaube ich, aber er füllt eine Lücke, die die Kanzlerin lässt.
Das Schweigen der Kanzlerin wird immer lauter
Niemand hält sie davon ab, über das Land in dieser schwierigen Zeit große Reden zu halten. Nur sie hält sich davon ab. Es liegt ihr nicht, das wissen wir schon lange. Vielleicht erkennt sie jetzt nicht die Notwendigkeit, vielleicht hat sie nicht mehr die Kraft zu mehr als "Business as usual". Ihr dröhnendes Schweigen ist aber deprimierend. Coronavirus? Sache des Gesundheitsministers. Die verzweifelten Flüchtlinge am griechischen Grenzzaun? Durch die Talkshows tingelt der CDU-Generalsekretär Paul Ziemiak.
Kleine und mittlere Vorfälle sind Minister-Sache. Größere Vorfälle sind Chefinnen-Sache. Einschnitte wie Hanau aber verlangen nach Kanzlerinnen-Worten. Abwesenheit in Serie ist wie Arbeitsverzicht. Es genügt nicht, die AfD-Tücke in Thüringen mal kurz und wegwerfend zu kommentieren. Es ist lobenswert, eine Libyen-Konferenz in Berlin einzuberufen. Es genügt nicht zu sagen, 2020 ist nicht 2015. Da ist zu oft zu viel Vakuum.
Jedes Vakuum ist gefährlich. Schon im Jahr 2015, als sie sagte, "wir schaffen das" und eine unerhörte Hilfsbereitschaft in der Bevölkerung auslöste, hätte sie später in regelmäßigen Abständen über die logistischen und kulturellen Probleme, die 900.000 Flüchtlinge verursachten, Reden halten müssen. Im Vakuum breitete sich die AfD aus.
"Anne Will"-Auftritte ersetzen keine Regierungserklärung
Politik ist wesentlich Kommunikation. Sonntagsreden braucht niemand. Aber auf Erklärungen und Begründungen, auf Einordnung gravierender Ereignisse haben wir ein Anrecht. Gelegentliche Sonntagsauftritte bei "Anne Will" ersetzen Grundsatzdarlegungen über Regierungshandeln beileibe nicht.
Die Alternative zu größerer Rhetorik ist das richtige Wort zur richtigen Zeit. Das fand sie 2008 auf dem Höhepunkt der Weltfinanzkrise und beruhigte damit die deutschen Sparer und Kontenbesitzer. Würde sie von dieser nüchternen Klarheit, die im protestantischen Pragmatismus gründet, öfter Gebrauch machen, wären wir vermutlich auch zufrieden. Dieses Gespür für das gute Timing hat sie wohl verlassen.
In Spätphasen der Kanzlerschaften breitet sich fast notwendigerweise Mehltau aus. Zu vieles fließt zäh dahin. Unruhe folgt auf Ungeduld. Verdienste, die sich jeder länger amtierende Kanzler zweifellos erworben hat, treten in den Schatten, weil sie überständig wirken. Noch kein deutscher Regierungschef hat es in mehr als 70 Jahren verstanden, seinen Abschied aus innerer Freiheit im richtigen Zeitpunkt zu nehmen.
Merkel ist eigentlich schon nicht mehr da
Wer wie Angela Merkel sagt, in anderthalb Jahren bin ich weg, ist jetzt schon weg. Wer den Parteivorsitz abgibt, halbiert seine Macht. Wer glaubt, er könne seinen Nachfolger auf Sicht aufbauen, merkt bald, dass er sich geirrt hat. Und dann?
Das doppelte Vakuum zerreißt die CDU und schadet dem Land. Die CDU muss sich neu definieren, wofür Wolfgang Schäuble in seiner Hanauer Rede Vorschläge machte. Er sagte, man müsse Fremdheitsgefühle im rasanten Wandel ernst nehmen. Auch sei nicht jeder ein Rassist, den die Angst quält, dass der gesellschaftliche Wandel ihn zum Verlierer stempelt.
Das ist eine bedenkenswerte Handreichung für die Zeit nach Angela Merkel. Die CDU übt sich schon heute darin, indem sie die Wiederholung von 2015 in diesen Tagen unter allen Umständen verhindern will. Diesmal will sie nichts falsch machen. Sie schwieg sogar dazu, dass sich Bürgermeister unterschiedlicher Couleur bereit erklären, wenigstens minderjährige Flüchtlinge aus dem Elend in den griechischen Lagern in die Städte zu holen. 1.500 kranke und allein geflüchtete Kinder dürfen dank der Großen Koalition jetzt ins Land.
Merkels Nachfolger wird ein Problem mit ihr haben
Die CDU will das Vakuum schnell hinter sich bringen. Sie ist entschlossen, ihre Diadochenkämpfe nicht überlang hinzuziehen wie die SPD. Ob Armin Laschet oder Friedrich Merz am 25. April zum neuen Parteivorsitzenden gewählt wird und damit auch zum Kanzlerkandidaten der Union aufsteigt: Jeder von beiden hat ein Problem mit der Kanzlerin. Soll er noch anderthalb Jahre hinter ihr zurückstehen?
In schwierigen Zeiten braucht das Land Führung, wann denn sonst? Wer sie nicht ausübt, verliert an Autorität. Wer übermäßig schweigt, macht sich verzichtbar. Wer abwesend ist, verkürzt seine Verweildauer im Amt. Wer Unmut auf sich zieht, und der Unmut in Berlin wächst über die Kanzlerin, der beschwört Rücktrittswünsche herauf.
Diese Kanzlerin hat sich große Verdienste erworben. Ich hätte ihr einen gelungenen Abschied gegönnt. Ich dachte, sie hätte die innere Freiheit gewonnen, das Nötige zu tun und Raum für ihre Wunschnachfolgerin zu lassen. Dass es nicht gelungen ist, liegt nicht allein an ihr, wohl aber ist der Verzicht auf angemessene Worte im richtigen Augenblick ihre Entscheidung. Es wird Zeit zu gehen.