Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.
Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.Schwarz-rote Endzeit Das große Warten auf Thüringen
SPD und Union vertagen die Halbzeit-Bilanz der großen Koalition und warten die Wahl in Thüringen am Sonntag ab. Aber glaubt irgendjemand wirklich, dass das Bündnis dann zerfällt?
Erinnern Sie sich an Andrea Nahles? Als sie noch Vorsitzende der ältesten Partei Deutschlands war, drohte sie damit, dass sie im Herbst darüber entscheiden würde, ob sie in der Regierung bleibt oder nicht. Klang entschlossen, wie so manches, das sie von sich gab. Jetzt droht niemand mehr, weil Nahles erst noch einen Nachfolger finden muss – nicht nur einen, sondern gleich zwei.
Gestern hat die große Koalition wie vorgesehen getagt und sich nach wenigen Stunden gleich wieder vertagt. Erst Anfang November will sie daran gehen, Bilanz zu ziehen. Was wissen die Damen und Herren dann mehr? Wie die Wahl in Thüringen ausgegangen ist.
Es geht ja nicht um den neutralen Versuch, etwas mehr als zwei Jahre nach der letzten Bundestagswahl die Arbeit der Regierung zu beurteilen, sondern vor der Beurteilung müssen vor allem die Sozialdemokraten sich fragen: Machen wir weiter oder hauen wir hin? Was ist besser für uns – Aussteigen, was nach Entschlossenheit aussehen könnte, oder Fortsetzung wie gehabt und aufs Beste für die nächste Wahl hoffen?
SPD würde gerne, traut sich aber nicht
Endzeiten sind fast immer von Mehltau befallen. Endzeiten haben etwas Kraftloses. Zugleich mit der Sehnsucht nach Entschlossenheit wächst die Einsicht, dass Beschleunigung vielleicht mehr schadet als nutzt.
Die SPD würde gerne, traut sich aber nicht. Die CDU sieht die Notwendigkeit ein, kann jedoch die Folgen nicht abschätzen und ist ohnehin darin geübt, überständige Kanzler zu ertragen.
Angela Merkel bleibt das Zentralgestirn, solange sie da ist. Ihre Stärke ist die Schwäche der anderen, die für ihre Nachfolge infrage kommen. Ihre Stärke liegt auch darin, dass sie die Verantwortung für Niederlagen auf sich nimmt und damit schont, wer nach ihr kommen wird.
Am nächsten Sonntag findet die Landtagswahl in Thüringen statt. Sie rundet die ostdeutsche Dreierserie ab. Für die CDU sieht es vermutlich weniger schlecht aus als in Brandenburg und ähnlich schlecht wie in Sachsen. Vor fünf Jahren kam sie auf 33,5 Prozent. Diesmal wäre sie damit zufrieden, weniger als 10 Prozentpunkte zu verlieren.
Da kriegt man kalte Wut
Ihr Kandidat heißt Mike Mohring, überstand Anfang dieses Jahres eine Krebserkrankung und macht auf mich einen guten, tapferen Eindruck. Momentan bekommt er Hass-Mails und Morddrohungen, was die Verrohung der Sitten nicht nur in Thüringen trostlos belegt. Da kann man nur die kalte Wut kriegen.
Damit sind wir bei Björn Höcke, der AfD-Ikone, die mit ihren kaum verhohlen faschistischen Sprüchen und ihrem fahnenschwingenden Kleinführergehabe nationalistische Fantasien zum Blühen bringt. Höcke entfacht die Stimmung und ermutigt den Mob, der ihn umschwärmt.
Bei der Wahl am 27.Oktober entscheidet sich, wie weit Höcke damit kommt. Vor fünf Jahren lag die AfD bei 10,6 Prozent. Sie dürfte sich mindestens verdoppeln.
Das Besondere an Thüringen liegt darin, dass die CDU trotz der guten Ausgangslage nur eine Nebenrolle spielt und die SPD erst recht. Im Zentrum stehen Bodo Ramelow, der Ministerpräsident, und Björn Höcke. Links gegen rechts.Gewerkschafter gegen Geschichtslehrer. Wessi gegen Wessi. Hesse gegen Hesse, denn beide Herren gingen rechtzeitig nach der Wende nach drüben.
Ramelow ist über seine Partei hinausgewachsen
Ramelow ist für die Linke, was Winfried Kretschmann für die Grünen ist. Geschickt und beredt. Über seine Partei hinausgewachsen. Aufs Ganze bedacht und populär. Bei 28,2 Prozent landete die Linke 2014. Vielleicht kann Ramelow das Ergebnis sogar knapp halten, muss sich dann aber eine neue Koalition suchen, da die Grünen weniger gewinnen als die SPD verliert. R2G wäre in Thüringen perdu.
Der Trend aus Brandenburg und Sachsen dürfte sich hier fortsetzen: stärkere Wahlbeteiligung, der Ministerpräsident bleibt Ministerpräsident, neue Koalitionen entstehen. Die AfD erstarkt, bleibt aber draußen, was ihr gut gefällt und womöglich noch besser bekommt.
Es läuft auf eine Koalition von Linken und CDU hinaus
Was bedeutet Thüringen nun für Berlin? Was weiß man dort dann mehr als heute?
Die SPD, vermutlich einstellig, wird noch weniger wissen, was sie wollen soll. Die CDU dürfte in die paradoxe Lage kommen, dass sie zwar verliert, aber in Erfurt mitregieren kann und muss. Das läuft auf ein hübsches Novum hinaus, auf eine Koalition zwischen der Linken und der CDU. Die Alternative wäre eine Minderheitsregierung, was ginge, oder eine Koalition von CDU und AfD, was niemand will.
Anfang November wird in Berlin niemand schlauer sein als heute. Thüringen kann wenig zur Entscheidungsfindung beitragen. Die SPD wird noch weniger entschlussfähig sein, und die CDU ist sowieso nicht die treibende Kraft zum Ausstieg. So drängen sich die Gründe fürs Weitermachen förmlich auf.
SPD hält sich nur da, wo sie wirklich kämpft
Es ist eben verhängnisvoll, dass zwei Gezeichnete in Berlin regieren. Die SPD kann sich schon lange nicht mehr darauf hinausreden, dass nur die große Koalition sie klein macht. Sie schrumpft systematisch. Nur dort, wo sie wirklich kämpft, wie in Brandenburg oder Bremen, kann sie sich auf geringerem Niveau halten. Hamburg ist die goldene Ausnahme – wie lange noch?
Natürlich ist auch die CDU gezeichnet. Die alte Regel, dass schon gegangen ist, wer ankündigt zu gehen, trifft auf Angela Merkel zu. Die andere Regel, dass Kanzler ihren Nachfolger weder befördern noch verhindern können, trifft genauso zu. Deshalb zieht sich hin, was Apathie auslöst.
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Irgendwann werden distanzierte Geschichtsschreiber feststellen, dass die große Koalition gar nicht schlecht gearbeitet hat, aber leider nicht groß genug dachte und schon gar nicht groß handelte. Darin können wir ihnen heute schon beipflichten.