Die unendliche Brexit-Geschichte EU-Verbleib wäre die gerechte Strafe für Großbritannien
Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.
Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.Auch in dieser Woche will Theresa May dem Parlament ihren Brexit-Plan vorlegen und wohl scheitern. Was dann? Am besten bleibt das Land der EU noch eine Weile erhalten.
Ich würde gerne wissen, wie es Ihnen mit dem Brexit ergeht. Mich quält er, ich finde unerträglich, was sich im ältesten Parlament auf diesem Erdball ereignet. Manchmal denke ich, ich übersehe wegen der gemischten Gefühle das Wesentliche in dieser unendlichen Geschichte, und dann denke ich wieder: Spinnen die Briten, was machen sie da, haben sie aus den Augen verloren, worum es geht, warum kommen sie nicht zur Besinnung und hören mit diesen makaberen Machtspielchen auf?
Dreimal hat Theresa May ihr Abkommen mit der Europäischen Union dem Parlament zur Abstimmung vorgelegt. Drei Niederlagen hat sie erlitten. Jede andere Premierministerin oder jeder andere Premierminister wäre schon nach dem zweiten Mal zurückgetreten. Ist sie nicht. Und wahrscheinlich erwies sie damit ihrer Nation sogar einen Dienst, denn besser wird es nach ihr bestimmt nicht, wenn der neuerdings erschlankte und vorübergehend leise Boris Johnson seine Inkompetenz in Downing Street 10 zur vollen Blüte treiben dürfte.
In der vorigen Woche übernahm das Parlament die Initiative und stellte verschiedene Anträge zur Abstimmung, von denen kein einziger Antrag auch nur den Hauch einer Chance gehabt hätte. Es ging wild durcheinander, aber eben nicht wild genug, dass sich unverhoffte Mehrheiten ergeben hätten. Auch an diesem Montag wird sich das Drama wiederholen, wenn das Unterhaus erneut nach einer rettenden Brexit-Alternative sucht – ohne May.
Großbritanniens Parlamentarismus kennt nur eine Abwechslung
Einsicht in die Unwürdigkeit dieser Vorgänge? Besinnung nach den Demonstrationen in London und Petitionen im Netz? Nö. Kein Kompromiss unter der Sonne. Warum eigentlich nicht?
Weil Großbritanniens Parlamentarismus einem Wahlsystem folgt, das auf starke Regierungen ausgerichtet ist und seit Langem nur eine einzige Abwechslung kennt: Entweder die konservativen Torys stellen die Mehrheit im Parlament oder die linke Labour Party. Und wer regiert, redet nicht mit der Opposition. Theresa May unterließ es folgerichtig, Verbindung zur Labour Party aufzunehmen, um Gemeinsamkeiten auszuloten, was vernünftig gewesen wäre.
So ist jeder mit sich selbst beschäftigt, Theresa May mit Theresa May, Jeremy Corbyn mit Jeremy Corbyn, die Torys mit den Torys, Labour mit Labour. Und keiner von allen kümmert sich um das große Ganze, das Interesse der Nation.
In dieser Logik sind Koalitionsregierungen die unerwünschte Ausnahme. Im Jahr 2010 benötigte David Cameron die Liberaldemokraten als Mehrheitsbeschaffer. Die Lib Dems, wie sie abgekürzt werden, gibt es seit 1981, sie sind die einzige entschieden proeuropäische Partei in diesem Land. Fünf Jahre später bescherten die Wähler Cameron wieder eine absolute Mehrheit und so kam er auf die glorreiche Idee, ein Europa-Referendum zu halten. Das Schlamassel ist sein Werk.
DUP ist der Feind im eigenen Kabinett
Theresa May wurde Camerons Nachfolgerin und rief schlaumeierisch Neuwahlen aus, da sie darauf spekulierte, ihre ohnehin große Parlamentsmehrheit noch zu vergrößern, eine ihrer vielen Fehleinschätzungen. Seither muss sie mit der DUP koalieren, das ist die Partei der nordirischen Protestanten, die kompromisslos gegen ihr Brexit-Abkommen stimmt. Die DUP ist der Feind im eigenen Kabinett, der zu den Niederlagen und damit zur Selbstzerstörung der Regierung beiträgt.
In einem System, in dem der Sieger der Sieger ist, egal wie knapp er gewonnen haben mag, und sich auch so verhält, als hätte er keinerlei Rücksicht zu üben, sind Kompromisse unnötig, sogar verpönt, da sie mit Schwäche in eins gesetzt werden. Denn warum sollte jemand, der drauflos regieren kann, für seine Politik bei der Opposition werben oder ihr Deals anbieten? Was er nicht muss, macht er auch nicht.
- Das Brexit-Drama: Eine Chronologie in Bildern
Rücksicht nehmen müssen die Premierminister allerdings schon und zwar auf die eigene Partei Jeder von ihnen bekommt es mit internen Widersachern zu tun, mit der innerparteilichen Opposition. Deshalb machte Theresa May diesen Gaukler Boris Johnson zum Außenminister, was dessen Eitelkeit befriedigte, ohne dass es ihn dazu animiert hätte, in die komplizierte Materie europäischen Rechts einzutauchen. Unter großem Getöse trat er zurück, als sich das Abkommen mit der Europäischen Union abzeichnete. Er ist gegen einen milden Brexit, kompromisslos, denn mit dieser Haltung kann er die Premierministerin schwächen und seine Chancen auf ihre Nachfolge erhöhen.
Brexit-Kampf ist nur ein Kampf um Macht
Der Kampf um den Brexit ist ein Kampf um die Macht in der konservativen Partei. Als Theresa May in der vorigen Woche ankündigte, sie werde zurücktreten, falls das Abkommen nun endlich eine Mehrheit im Parlament bekäme, da stimmten Boris Johnson und seine Freunde urplötzlich für dieses Abkommen, das sie unter Rufen der Abscheu und Empörung zweimal abgelehnt hatten. Ihr Opportunismus folgte einem höheren Ziel, der Macht. So geht es zu in Britannien.
Wahlsysteme haben Folgen. Wenn die Mehrheit Mehrheit ist, wenn sich die Großen im Regieren abwechseln, erstarrt das politische System und neue Parteien bleiben chancenlos. Natürlich gibt es auch Grüne in Großbritannien, rund 61.000. Eine von ihnen trägt den Namen Caroline Lucas und hat es tatsächlich durch Direktwahl ins Parlament geschafft. Sie ist der britische Christian Ströbele. Eine Grüne, eine einzige Abgeordnete unter 572 anderen. Ihre Partei ist gegen den Euro und die Übermacht Brüssels, wie sie sagt. Zuverlässige Europafreunde finden sich hier nicht.
In London ist Kompromiss ein Fremdwort
Im repräsentativen Wahlrecht wie in Deutschland bildet das Parlament die Gesellschaft besser ab. Aus Bewegungen werden leichter Parteien, weil sie rasch in Parlamente einziehen und bald danach auch in die Regierung. Stellen Sie sich vor, in Deutschland würden abwechselnd immer nur SPD und Union allein regieren und die Grünen stellten nur eine Abgeordnete und die FDP allenfalls eine Handvoll. Wäre nicht erfreulich.
Was bei uns fast im Übermaß durchlässig ist, ist bei den Briten fast absolut undurchlässig. So bilden das deutsche und das britische Wahlrecht Extreme. In London ist Kompromiss ein Fremdwort. In Berlin wird bis zur Bewusstlosigkeit auch noch der schalste Kompromiss als durchschlagender Erfolg gefeiert.
Prozess der Destruktion ist noch nicht zu Ende
In beiden Ländern aber haben sich die herrschenden Systeme erschöpft. Schwache Regierungen wie die von Theresa May zerlegen sich in ihre Einzelteile, weil Minister und Staatssekretäre in Scharen davonlaufen und die Premierministerin systematisch an Autorität verloren hat, weshalb sie nun Niederlage an Niederlage reiht.
In Deutschland leiden beide Regierungsparteien unter der Notwendigkeit, miteinander zu regieren. Beide haben an Autorität und Schwungkraft verloren. Mit der AfD ist fast zwangsläufig eine rechte Konkurrenz entstanden, die alle anderen Parteien zum Nachdenken zwingt.
In Großbritannien ist der Prozess der Destruktion noch nicht zu Ende. Ab heute übernimmt wieder das Parlament die Initiative und wird über Alternativen zu Mays Abkommen abstimmen. Vermutlich werden alle Anträge auch diesmal abgeschmettert. Theresa May lässt wissen, dass sie ein viertes Mal ihren Plan ins parlamentarische Verfahren einbringen könnte. Alles andere als eine erneute Niederlage wäre eine Sensation.
Brexit-Hardliner sind mit Selbstzerstörung zufrieden
Ersatzweise droht die Premierministerin mit Neuwahlen. Die Gaukler um Boris Johnson wollen das nicht. Sie sind mit der Selbstzerstörung zufrieden. Sie würden sich darüber freuen, wenn der Spuk am 12. April vorbei wäre – dann läuft die Frist für das Junktim ab, das die EU erhoben hat: Zustimmung zum Abkommen in London gegen Verlängerung des Ausstiegs bis zum 22. Mai. Sonst Abschied ohne Abkommen.
Soweit wird es jedoch nicht kommen. Europa wird sein, was Großbritannien nicht ist: kompromisswillig und zwar zu Recht. Es wäre eine gerechte Strafe für das unregierbare Großbritannien, wenn es noch viel länger als gewollt ein Mitglied der Europäischen Union bleiben müsste. Denn darin läge eine Chance für das zutiefst gespaltene Land, doch noch das zu finden, wozu es bislang so wenig fähig ist: einen Kompromiss.
- Newsblog: Die aktuellsten Entwicklungen zum Brexit
- Reaktionen aus Brüssel und der Wirtschaft: Die Hoffnung auf das Brexit-Wunder schwindet
- Analyse zum Scheitern des Brexit-Deals: Theresa May hatte keine Chance
- Kommentar zum dritten Scheitern des Brexit-Abkommens: Eine politische Bankrotterklärung
In London haben sie alles durchgespielt: die Alternative zwischen einem weichen oder keinem Brexit. Zwischen Rücktritt und Neuwahlen, Zollunion und/oder Binnenmarkt. Zwischen raus aus der EU am 29. März oder am 12. April oder 22. Mai. Zwischen Nichtteilnahme und Teilnahme an den Europawahlen am 26. Mai. Was bleibt da noch?
Das Vertagen des Ausstiegs ist die am wenigsten unvernünftige Konsequenz bei der umfassenden Unfähigkeit zu einem Kompromiss. Also, vertagt mal schön und geht in euch, könnte was bringen.