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Konflikt zwischen Armenien und Aserbaidschan: "Sie werden alle holen"


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Eskalation in Bergkarabach
"Sie werden alle holen": Wie meine Familie den Konflikt erlebt

MeinungVon Anna Aridzanjan

Aktualisiert am 29.09.2020Lesedauer: 4 Min.
Überall in Armeniens Hauptstadt finden sich Männer im wehrfähigen Alter ein, um freiwillig oder verpflichtend eingezogen zu werden.Vergrößern des Bildes
Überall in Armeniens Hauptstadt finden sich Männer im wehrfähigen Alter ein, um freiwillig oder verpflichtend eingezogen zu werden. (Quelle: Melik Baghdasaryan/Photolure/TASS/imago-images-bilder)
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Für die meisten Menschen sind die Nachrichten aus Bergkarabach eine weitere Meldung zu einem Konflikt. Für unsere Autorin sind es Stunden voller Angst, in denen sie versucht, ihre Familie zu erreichen.

Es ist mitten in der Nacht in Armenien, als ich meine Cousine dort erreiche. "Wie geht’s euch, Agnes? Ich habe von der Generalmobilmachung gelesen. Ich mache mir Sorgen, melde dich", tippe ich ins Handy. Die Minuten, in denen ich auf eine Antwort warte, fühlen sich wie Stunden an.

Dann schreibt sie: "Anna, es ist furchtbar. Ich bin jetzt mit meinem Mann an einem Sammelpunkt, wo sie die Männer einziehen. Wir haben schon einen Freund der Familie verabschiedet, er wird jetzt mit dem Bus an die Grenze gebracht. Sie werden alle holen, Anna." Ich höre das Blut in meinen Ohren pochen.

Armenien hat den Kriegszustand ausgerufen. Das winzig kleine Land im Kaukasus, meine Heimat, ist seit Sonntagmorgen mitten in einem wieder lodernd aufflammenden Konflikt, der seit rund 30 Jahren als "eingefroren" gilt, es aber nie wirklich war.

Worum geht es in diesem Konflikt?

Um Bergkarabach geht es, eine Region südöstlich von Armenien. Das mehrheitlich armenisch bewohnte Gebiet hatte sich nach dem Zerfall der Sowjetunion 1991 zum unabhängigen Staat Arzach erklärt. Seitdem toben blutige Kämpfe, denn Aserbaidschan will sich die Region, die nach Ansicht der Vereinten Nationen und des Europarates weiterhin zum Territorium Aserbaidschans gehört, wieder zurückerobern. Zuletzt in Form von erfolglosen Kriegshandlungen im Jahr 2016 – und nun wieder. Arzach, so die Argumentation Armeniens, war jedoch schon immer von Armeniern bewohnt. Dass Aserbaidschan Anspruch auf das Gebiet erhebt, hat seinen Grund in der Sowjetzeit: 1920 verkündete Stalin den Verzicht Armeniens auf Bergkarabach – trotz eines armenischen Bevölkerungsanteils von 94 Prozent.

In dieser Nacht schlafe ich kaum. Ich liege neben meinem Handy, warte auf Wasserstandsmeldungen aus der Hauptstadt Jerewan, wo meine Cousine und ihr Mann Petros weiterhin am Sammelpunkt stehen und auf Anweisungen warten. "Kann ich etwas tun?", frage ich sie hilflos. Aber was kann ich schon tun? Ich ärgere mich über diese naive, dumme Frage. Agnes antwortet sofort: "Schreib darüber. Alle sollen es erfahren. Wir werden von Aserbaidschan angegriffen."

Alle Gefühle gleichzeitig, als der Bus voller Männer losfährt

Nach einer Weile gibt es Entwarnung – vorerst. Petros und auch mein Cousin Eduard wurden erst einmal nicht weggebracht, erfahre ich. Hier in Deutschland ist es bereits nach Mitternacht, in Armenien zwei Uhr morgens.

Meine Cousine schickt mir ein kurzes Video von dort. Man sieht einen grauen Reisebus voller Männer. Rundherum sind Hunderte Menschen, sie verabschieden die Einberufenen. Als der Motor startet, bricht die Menschenmenge ringsherum in Applaus, Geschrei, Weinen und Jubeln aus. Alle Gefühle, gleichzeitig. Sie wollen den Männern, die nun an die Grenze gekarrt werden, Mut machen. Mut und Hoffnung, trotz Angst um deren Leben. Und ja, fast alle sind voller Patriotismus. Noch.

"Mal sehen, was die Nacht bringt", schreibt mir Agnes noch, bevor ihr Handyakku leer ist, "falls mehr Männer gebraucht werden, sind wir auch dran." Kopfkino, wie in einem schlechten Hollywoodschinken. Es ist alles so absurd.

Blockiertes Internet und Propagandakrieg in Aserbaidschan

Irgendwann später scheint sie jemanden mit einem Ladekabel gefunden zu haben. Sie schickt mir Links zu Artikeln, die berichten, was gerade passiert. Artikel in russischer, armenischer, englischer Sprache. Links zu Facebook-Posts. Twitter-Hashtags. Man erzählt sich am Sammelpunkt, dass ein großer Teil des Internets in Aserbaidschan blockiert ist: Alle Messengerdienste, fast alle sozialen Netzwerke. Das bestätigen auch Expertenuntersuchungen.

Nur Twitter scheint in Aserbaidschan zu funktionieren. Ich sehe auch wozu: Regierungstreue Accounts und Bots fahren dort eine groß angelegte Propaganda-Kampagne. Die Tweets schüren Hass gegen alles Armenische, sprechen von "armenischer Aggression". Auch türkische Accounts und einflussreiche Menschen machen Stimmung: Der Chefredakteur einer großen Zeitung, die der Regierungspartei AKP nahe steht, twittert etwa, eine Rakete solle doch bitte "versehentlich" auf die armenische Hauptstadt Jerewan fallen.

Der Sohn feierte am Tag der Mobilmachung seinen dritten Geburtstag

Deswegen schickt Agnes mir das alles. "Irgendjemand muss gegen diese Falschinformationen und die Hetze ankämpfen." Ich frage sie, ob sie wenigstens kurz nach Hause können, bis sie mehr wissen. Nein, sie müssen dort weiter warten, antwortet sie.

Agnes und Petros haben zwei kleine Söhne, der jüngere ist am Tag der Mobilmachung drei Jahre alt geworden. Die Großmutter wohnt zum Glück mit im Haus, kann bei den Kindern bleiben, während die Eltern auf schlimme oder gute Nachrichten warten.

Ich wühle mich durch Twitter und Nachrichtenseiten. Eine Recherche will aufgedeckt haben, dass die Türkei syrische Söldner an der Grenze zu Armenien und Bergkarabach platziert hat, als Kanonenfutter für den aktuellen Angriff. Es gibt unbestätigte Meldungen, die von Armenien abgeschossenen Drohnen aus Aserbaidschan seien aus türkischen Beständen – damit wäre die Türkei auch ganz offiziell agierende Kriegspartei.

Selbst mir, als Nachrichtenprofi, raucht der Kopf. Wie muss es da unzähligen anderen Menschen gehen, die sich einfach nur informieren wollen und dann von einer Flut bestätigter und unbestätigter Meldungen überrollt werden?

Bei Romantisierung von Krieg wird mir übel

Am nächsten Morgen lese ich von weiteren Schüssen, weiteren Toten. Ich sehe die Geburtsjahre der getöteten Soldaten. 2000. 2001. 2002. Sie waren gerade volljährig geworden, fast noch Kinder. Sie sind nicht gefallen, sie wurden getötet. Bei Romantisierung von Krieg wird mir übel.

Kurz darauf schreibt mir meine Cousine. "Eduard wurde einberufen." Mein Cousin, ein Ehemann und Vater zweier Kinder.

Für die meisten Menschen, die diese Zeilen lesen, sind die Nachrichten aus Bergkarabach eine weitere Auslandsmeldung zu einem Konflikt – zu weit weg, zu abstrakt. Für mich sind diese Nachrichten ein wahr gewordener Albtraum voller Angst um meine Verwandten. Die einzige Hoffnung, die mir bleibt: Dass sich dieser Konflikt beruhigt, dass er sich irgendwie friedlich lösen lässt. Ohne weiteres Blutvergießen. So abgedroschen es klingt: Gewinner kann es hierbei nämlich nicht geben.

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