Aufstand des Wagner-Chefs "Putin weiß, wie es für den letzten Zaren endete"
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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Söldnerchef Jewgeni Prigoschin probt den Aufstand, Kremlchef Wladimir Putin bezeichnet ihn als "Verräter". Russlandexperte Jan C. Behrends über die Lage in Russland.
t-online: Professor Behrends, Söldnerchef Jewgeni Prigoschin sucht gerade offensichtlich die Machtprobe mit dem Kreml. Was ist los in Russland?
Jan C. Behrends: Wenn wir den Nachrichten Vertrauen schenken wollen, kontrolliert Prigoschin mit seinen Söldnertruppen mittlerweile nicht unbeträchtliche Landesteile im Süden Russlands. Der Wagner-Chef hat seinen lang andauernden verbalen Machtkampf mit Verteidigungsminister Sergej Schoigu also in eine militärische Auseinandersetzung eskalieren lassen. Oder anders ausgedrückt: Prigoschin ist vom Söldnerführer im Dienste des Kremls über Nacht zu einem lokalen Warlord aufgestiegen.
Hat Wladimir Putin die Gefahr verkannt, die von Söldnergruppen ausgeht?
Das Problem mit Söldnern besteht darin, dass sie für Geld kämpfen und ihre Loyalität begrenzt ist. Denken Sie etwa an den Dreißigjährigen Krieg im 17. Jahrhundert. Mit der Beschäftigung von Söldnergruppen wie Wagner hat der russische Staat sein Gewaltmonopol aufgegeben. So etwas ist extrem gefährlich, das ist der Weg in den Bürgerkrieg.
Jan Claas Behrends, Jahrgang 1969, forscht und lehrt am Leibniz-Zentrum für Zeithistorische Forschung (ZZF) Potsdam und der Europa-Universität Viadrina Frankfurt/Oder. Der Historiker ist Experte für die Geschichte Osteuropas und hat die Gewaltkultur in der sowjetischen und postsowjetischen Gesellschaft von den 1970er-Jahren bis in die Gegenwart in verschiedenen Projekten untersucht.
Also hat Putin die aktuelle Bedrohung seines Regimes selbst gefördert.
Putin hat mit dem Feuer gespielt, als er die verschiedenen Söldnergruppen geschaffen hat. Die Folge ist nun die partielle Auflösung russischer Staatlichkeit im Süden. Jedenfalls sieht der russische Präsident heute sehr schwach aus. Wir werden in den nächsten Tagen sehen, wie weit seine Macht noch reicht, wer in dieser Lage loyal ist, wer abwartet, wer überläuft.
Zumindest im Augenblick scheint die Lage für den Kreml nicht beherrschbar.
Prigoschin konnte Rostow am Don offenbar ohne Widerstand einnehmen. Das ist eine Großstadt mit mehr als einer Million Einwohnern. Zudem konnte er das dortige Hauptquartier des Militärs besetzen. Die Initiative ist also zu dieser Zeit bei Prigoschin.
Und auch im Moskau viel näher gelegenen Woronesch im Norden sollen Wagner-Söldner stehen.
Die regulären Truppen verhalten sich wohl passiv, es finden heute Morgen noch keine größeren Kämpfe statt. Die Lage ist aber nach wie vor unklar. In den nächsten Tagen wird sich zeigen, welche Kräfte Putin mobilisieren kann. Fest steht: Auch Putins Ressourcen sind nicht unendlich.
Zugleich läuft an der Front die Gegenoffensive der ukrainischen Armee.
Möglicherweise muss Putin in dieser kritischen Phase von der Front Truppen abziehen, um die Lage im Inneren Russlands zu stabilisieren und Prigoschins Zug nach Norden zu stoppen. Prigoschin ist ja offenbar nach Moskau unterwegs. Von dieser Entwicklung könnte die Ukraine profitieren.
Werden aber die Fronttruppen die Befehle des Kremls noch befolgen?
Der kritische Moment für jeden Machthaber ist der, in dem die Befehlskette reißt – der Augenblick, in dem offensichtlich keine Loyalität mehr vorhanden ist und jeder Untergebene die Schwäche des Diktators plötzlich sieht. In seiner Rede an die Nation heute Morgen sah Putin schwach aus. Er verglich die Lage mit dem Jahr 1917 in Russland, dem Jahr der Niederlage und der Revolution. Damals haben die Soldaten einfach ihre Stellungen verlassen und sind von der Front nach Hause gelaufen. Es folgte die Auflösung des russischen Staates. Ein gefährlicher Vergleich, den Putin da zieht, er weiß ja, wie es für den letzten Zaren endete.
Hat Prigoschin möglicherweise Verbündete? Oder geht er allein aufs Ganze?
Das wissen wir zu diesem Zeitpunkt nicht. Wir wissen aber um den furchtbaren Ruf seiner Söldner, den sie sich in Afrika, aber auch in der Ukraine erworben haben: Sie gehen gegen ihre Gegner mit äußerster Brutalität vor. Normale russische Polizisten werden sie sicher nicht stoppen.
Professor Behrends, vielen Dank für das Gespräch.
- Persönliches Gespräch mit Jan C. Behrends via Telefon