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Zum journalistischen Leitbild von t-online.G20-Gipfel in Brasilien Es schlug ein wie eine Bombe
Weltwirtschaft, Armut, Kriege in der Ukraine und in Nahost: In Brasilien streiten die führenden Industrie- und Schwellenländer über Lösungen für aktuelle geopolitische Krisen. Doch vor allem die USA und Deutschland rufen vor dem G20-Gipfel Unruhe hervor.
Aus Rio de Janeiro berichtet Patrick Diekmann.
Es gibt sicherlich viele Staaten, die lange auf diesen einen Moment warten: Endlich einmal eigene Themen setzen, über die die einflussreichsten Länder des Globus daraufhin miteinander diskutieren. Deshalb ist die G20-Präsidentschaft insbesondere für viele Schwellenländer äußerst beliebt. Für sie ist es auch eine Chance, international mehr Aufmerksamkeit zu bekommen.
In den vergangenen Jahren inszenierten sich Indien oder Indonesien in dieser Funktion selbst, überall auf Bali 2022 und in Neu-Delhi 2023 waren große G20-Werbeplakate zu sehen. Ihre Botschaft: Die Staaten gewinnen an Einfluss und werden in der Welt respektiert.
Doch im Jahr 2024 ist vieles anders. Der diesjährige G20-Gipfel findet in den kommenden Tagen in Rio de Janeiro statt. Und es fällt auf, wie wenig sichtbar das Treffen der führenden Industrie- und Schwellenländer in der brasilianischen Metropole ist.
Kaum große Werbebanner, keine Plakate mit dem brasilianischen Präsidenten Lula da Silva und dem G20-Logo. Zwar gab es am Sonntag in Rio größere Absperrungen für den Verkehr, und Militär und Polizei prägten das Stadtbild. Einige Brasilianer machten zwar Fotos mit den Soldaten, wussten aber gleichzeitig nicht, warum die Soldaten überhaupt dort waren.
"G20? Was ist das? Und wer kommt nach Brasilien?", fragte die Passantin Taléia t-online ungläubig. Dabei stand sie nur 20 Gehminuten vom Herz des Treffens, dem Museum of Modern Art in Rio, entfernt. Sie ergänzte: "Nein, das habe ich nicht mitbekommen. Aber es ist schön, dass viele Menschen nach Brasilien kommen."
Dabei hatte sich auch die brasilianische Führung für ihren G20-Vorsitz eine ehrgeizige Agenda gesetzt. In den kommenden Tagen werden die Staats- und Regierungschefs über die bessere Bekämpfung von Armut diskutieren, über mehr Einfluss von Schwellen- und Entwicklungsländern auf die Geopolitik und schließlich auch über die Kriege in der Ukraine und im Nahen Osten.
Ohne Zweifel gibt es viel Handlungsbedarf in einer krisengebeutelten Welt, die nach einer neuen Ordnung sucht. Doch die Hoffnung in Brasilien ist gering, dass es wirklich zu nachhaltigen Beschlüssen kommen wird. Deshalb dämpft Lula die Erwartungen, indem er den Gipfel nicht allzu sehr an die große Glocke hängt.
Die gedämpften Erwartungen haben nicht zuletzt mit den USA und Deutschland zu tun. Mit US-Präsident Joe Biden und Bundeskanzler Olaf Scholz kommen gleich zwei wichtige Regierungschefs nach Rio, die in ihren Ländern als "lahme Enten" gelten. Sie haben innenpolitisch kaum noch Macht und das mindert ihre Gestaltungsmöglichkeiten beim G20-Gipfel in Brasilien. Das kostet Nerven – vor allem bei den Gastgebern.
Brasilien will Ukraine-Thema vermeiden
Die G20 wurden in den vergangenen Wochen von einem heftigen Beben erschüttert: Donald Trump gewann Anfang November die US-Präsidentschaftswahl. Seine Rückkehr ins Weiße Haus wird dazu führen, dass die amerikanische Politik erneut isolationistischer und die internationale Zusammenarbeit damit nicht einfacher werden wird.
Die Angst vor Trump geht auch in Rio um. Denn der Republikaner könnte alle möglichen Beschlüsse der G20 nicht umsetzen oder rückgängig machen.
Was sind die G20?
Die G20 ist ein seit 1999 bestehender informeller Zusammenschluss aus 19 Staaten, der Europäischen Union und der Afrikanischen Union. Sie repräsentiert die einflussreichsten Industrie- und Schwellenländer.
Für den Gastgeber Brasilien geht es schwerpunktmäßig darum, eine Abschlusserklärung aushandeln zu lassen, die alle G20-Mitglieder unterzeichnen können. Lula setzt seine inhaltlichen Prioritäten vor allem auf sozialpolitische Bereiche: Hunger- und Armutsbekämpfung. Am Wochenende vor dem G20-Gipfel fand erstmals ein Sozialgipfel statt, bei dem in den umfunktionierten Hallen des neuen Hafens in Rio über das Klima, bezahlbaren Wohnungsbau oder die Rechte Indigener diskutiert wurde.
Die wichtigsten Themen auf der Agenda des G20-Gipfels in Rio im Überblick:
- Armut und Hunger: Am ersten Tag des Treffens geht es um den Kampf gegen Armut. Ziel Brasiliens ist es außerdem, Initiativen zur Steigerung der Lebensmittelproduktion und zur Bekämpfung von Hunger voranzutreiben.
- Mehr politischer Einfluss für Schwellen- und Entwicklungsländer: Auch eine Reform des Systems zur Entscheidungsfindung bei den Vereinten Nationen soll am ersten Tag diskutiert werden.
- Klimawandel: Die G20 werden Wege zu einer globalen Energiewende diskutieren.
- Russischer Angriffskrieg: Deutschland und weitere westliche Staaten wollen sich dafür einsetzen, dass auch der Krieg in der Ukraine Teil der Gespräche wird. Generell geht es um die Frage, wie scharf die G20 die russische Invasion in ihrer Abschlusserklärung verurteilen. Daraus wird sich schließen lassen, wie international isoliert Kremlchef Wladimir Putin ist.
- Krieg im Nahen Osten: Auch die Lage im Gaza-Krieg und bei den Kämpfen zwischen Israel und der Hisbollah im Libanon dürfte Thema sein. Erwartet wird, dass Teile der G20 die israelische Kriegsführung scharf kritisieren.
Vor allem Biden erzeugte bereits am Sonntag vor dem G20-Treffen Unruhe: Nach langem Überlegen hoben die Amerikaner ihre Reichweitenbeschränkung für die an die Ukraine gelieferten US-Waffen auf. Kiew wird es nun also möglich sein, Ziele weiter im Landesinneren von Russland zu attackieren. Die politische Folge wird sein, dass in den kommenden Tagen in Rio vor allem darüber gesprochen wird. Das trifft in erster Linie Putin militärisch. Aber auch Lula wird sich darüber ärgern.
Denn die brasilianische Führung wollte in den kommenden Tagen ein Thema kleinhalten: den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine. "Wir haben den ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj nicht eingeladen, und der russische Präsident Wladimir Putin wird nicht teilnehmen. Wir glauben nicht, dass dieses G20-Forum ein Ort sein wird, um den Krieg zwischen den beiden Ländern zu diskutieren", sagte Lula zuletzt in einem Interview des französischen Senders TF1.
Putin kommt zwar nicht nach Rio, dafür aber sein Außenminister Sergej Lawrow. Da der G20-Gipfel eines der wenigen internationalen Formate ist, bei dem Russland und der Westen an einem Tisch sitzen, wird in den kommenden Tagen auch über die Ukraine diskutiert werden. Und immerhin ist es US-Präsident Biden gelungen, schon vor Gipfelbeginn ein Zeichen zu setzen, indem er der Ukraine die Fesseln löste.
Drei größere Streitthemen erwartet
Streit ist aber nicht nur in Debatten um den Ukraine-Krieg programmiert. Mit Blick auf die Abschlusserklärung gab es Insidern zufolge vor den Gesprächen in Rio de Janeiro zunächst bei zwei weiteren Themen Uneinigkeit: Darüber, wer die Kosten für Maßnahmen gegen den Klimawandel tragen soll, und über eine mögliche Besteuerung von Superreichen ist man sich uneinig. Beides Themen, die auch mit Blick auf Trump kompliziert werden dürften.
Der Streit über die Klimakosten dauert bereits länger an. Einige Industrieländer fordern vor allem besser gestellte Schwellenländer – wie etwa China – dazu auf, sich an der Finanzierung des Kampfes gegen die Klimakrise zu beteiligen. Diese lehnen das oft mit dem Verweis ab, dass die westlichen Industrieländer bereits Jahrhunderte dem Klima geschadet hätten. Eine Steuer für Superreiche ist ein besonderes Anliegen von Gastgeber Lula. Den Angaben von Diplomaten hat sich jedoch Argentinien unter Präsident Javier Milei gegen eine entsprechende Passage der Abschlusserklärung gestellt. In Rio wird vermutet, dass er sich mit Trump gut stellen möchte.
Demnach haben die Staats- und Regierungschefs der G20 noch zähe Verhandlungen vor sich, um Kompromisse in der Abschlusserklärung zu finden.
Scholz in der Kritik
In Brasilien könnten die Beschlüsse am Ende vage und sehr vorsichtig werden, befürchten zumindest die Gastgeber. Einerseits können aktuell nur wenige G20-Staaten einschätzen, was Trump außenpolitisch plant. Andererseits haben Putin und der saudische Kronprinz Mohammed bin Salman ihre Teilnahme abgesagt, und mit Biden und Scholz haben gleich zwei Teilnehmer nur noch begrenzten politischen Einfluss – das Problem der "lahmen Enten".
Unsicherheiten führen oft dazu, dass es auch den führenden Industrie- und Schwellenländern an Mut fehlt. Auch Deutschland spielt dabei eine Rolle, denn der Kollaps der Bundesregierung schlug international hohe Wellen. Während Trumps erster Amtszeit konnten unter anderem Deutschland und Frankreich teilweise das westliche Bündnis führen, waren in dieser Phase ein wichtiger Stabilitätsanker.
Nach dem Zusammenbruch der Ampel in der Bundesrepublik droht die deutsche Außenpolitik in den kommenden Monaten gelähmt zu werden. Deutschland erwartet ein kurzer Wahlkampf, der zudem auf Innenpolitik konzentriert ist. Das löst Sorgen im westlichen Bündnis aus.
Denn auch europäische Diplomaten erwarteten im Gespräch mit t-online, dass der Wahlkampf in Deutschland die internationale Krisenpolitik überlagern könnte. So gibt es etwa auch in Rio de Janeiro deutliche Kritik am Telefonat des Bundeskanzlers mit Wladimir Putin am Freitag. "Wenig hilfreich", "ein Wahlkampfmanöver", so lautete die Kritik. Scholz wolle sich im Wahlkampf als Friedenskanzler inszenieren und helfe dabei Putin aus der internationalen Isolation.
Und in der Tat: Scholz verteidigte ein Telefonat am Sonntag zwar als "wichtig", um Russland zu demonstrieren, dass auch Deutschland die Ukraine weiter unterstützen werde. Das Gespräch habe laut dem Kanzler aber auch zu der Erkenntnis beigetragen, "dass sich bei dem russischen Präsidenten an seinen Ansichten zu diesem Krieg nicht viel geändert hat, was keine gute Nachricht ist."
Der Erkenntnisgewinn beläuft sich also lediglich darauf, dass beide Seiten an ihren Positionen festhalten. Wenig, meinen Kritiker. Denn Putin sieht sich auf der Siegerstraße und in Scholz einen Bundeskanzler, der vielleicht nur noch wenige Monate im Amt ist. Deswegen wartet Russland ab, und das wird auch Putins Strategie beim G20-Gipfel in Rio sein.
- Berichterstattung vom G20-Gipfel in Rio de Janeiro
- Gespräche mit Diplomaten vor Ort
- Nachrichtenagenturen dpa und Reuters