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Welt hätte vorgewarnt sein können: "Diese Demütigung hat Putin niemals vergessen"


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Historiker Baberowski
"Diese Demütigung hat Putin niemals vergessen"

InterviewVon Marc von Lüpke

Aktualisiert am 27.04.2022Lesedauer: 12 Min.
Wladimir Putin: Der russische Präsident wird den Krieg gegen die Ukraine notfalls noch sehr lange Zeit weiterführen, sagt der Historiker Jörg Baberowski.Vergrößern des Bildes
Wladimir Putin: Der russische Präsident wird den Krieg gegen die Ukraine notfalls noch sehr lange Zeit weiterführen, sagt der Historiker Jörg Baberowski. (Quelle: Alexander Zemlianichenko/ap)
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Wladimir Putins Angriff kam überraschend, doch die Welt hätte vorgewarnt sein können. Denn am Neubau des russischen Imperiums arbeitet der Kremlchef schon lange, erklärt Historiker Jörg Baberowski.

Als realitätsfern, gar als verrückt haben Beobachter Wladimir Putin nach Beginn des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine bezeichnet. Doch die Wirklichkeit ist schlimmer, denn Russlands Präsident ist sich wohl bewusst, was er tut. Diese Einschätzung trifft mit Jörg Baberowski einer der renommiertesten Osteuropa-Historiker.

In Putins Welt zählt demnach der gewaltsame Wiederaufbau des russischen Imperiums in alter, historischer Größe mittlerweile mehr als Frieden und Diplomatie. Wie der Krieg gegen die Ukraine enden könnte, wieso die Vorsicht von Bundeskanzler Olaf Scholz bei der Lieferung schwerer Waffen an die Ukraine ihren Sinn hat und der Vergleich Putins mit dem Sowjetdiktator Josef Stalin unnötig ist, erklärt Jörg Baberowski im Gespräch.

t-online: Professor Baberowski, seit dem russischen Überfall auf die Ukraine erlebt die Kreml-Astrologie ungeahnten Aufschwung. Wie gut sind wir im Westen über die Entscheidungswege im russischen Machtapparat informiert?

Jörg Baberowski: Wir wissen wenig darüber, was im Kreml geschieht. Die Inszenierung verborgener Staatlichkeit, die in Russland seit Peter dem Großen als Tradition fest verankert ist, erfüllt immer noch ihren Zweck. Als es die Sowjetunion noch gab, haben westliche Experten versucht, aus der Aufstellung der Personen auf der Kremlmauer Aufschluss über die Machtverhältnisse zu gewinnen. Viel weiter sind wir heute auch nicht.

So wurde im Westen eine gewisse Zeit über den Verbleib des russischen Verteidigungsministers Sergei Schoigu spekuliert, dessen Truppen vor Kiew recht erfolglos agierten.

Das ist ein gutes Beispiel unserer Ahnungslosigkeit.

Nun konzentrieren sich Experten vor allem darauf, Wladimir Putins Beweggründe für den Krieg zu verstehen. Haben Sie eine Vermutung?

Manches lässt sich aus seinem Lebensweg herauslesen. Nach dem Fall der Berliner Mauer musste Putin 1990, der in der DDR im KGB gedient hatte, in seine Heimatstadt Leningrad zurückkehren. Dort aber, umgeben von Chaos und Kriminalität, war er ein Niemand. Diese Demütigung hat Putin niemals vergessen.

Also besteht Putins Motivation vor allem im Wunsch nach Revanche und einer gewissen Großmannssucht?

Putin hat sehr früh die Absicht verfolgt, Russland wieder stark und groß zu machen. Das war so in seiner Zeit als Chef des FSB, aber auch später als russischer Ministerpräsident und Staatschef. Anfangs dachte er, dieses Ziel auf friedlichem Weg, in Kooperation mit dem Westen, vorantreiben zu können.

Jörg Baberowski, Jahrgang 1961, lehrt Osteuropäische Geschichte an der Humboldt-Universität zu Berlin. Seine Forschungsfelder sind unter anderem der Stalinismus und die Geschichte der Gewalt. 2012 erhielt Baberowski den Preis der Leipziger Buchmesse für sein Standardwerk "Verbrannte Erde. Stalins Herrschaft der Gewalt". Drei Jahre später erschien seine Studie "Räume der Gewalt", zuletzt dann im letzten Jahr "Der bedrohte Leviathan. Staat und Revolution in Russland".

Der Westen sollte Putin bei der Restauration des früheren russisch-sowjetischen Imperiums helfen?

Vermutlich hat er daran wirklich geglaubt. Allerdings hat Putin den Westen und dessen Vorstellungen von einer Zusammenarbeit falsch eingeschätzt. Wir sollten nicht vergessen, dass die Entscheidungsträger in der späten Sowjetunion und in der Russischen Föderation von den Verhältnissen im Westen wenig wussten. Kaum jemand sprach Englisch, wenige waren überhaupt im Ausland gewesen. In den Neunzigerjahren ließen sie sich dann von westlichen Beratern marktliberale Wirtschaftsreformen aufschwatzen, die Russland in die Katastrophe führten.

Keine guten Voraussetzungen für die vertrauensvolle Koexistenz.

Ganz sicher nicht. Diese Erfahrungen haben sich dann zu dem Eindruck verfestigt, dass Russland dem Westen damals vollkommen ausgeliefert gewesen sei.

Gab es einen Schlüsselmoment, der sich als verhängnisvoll für das westlich-russische Verhältnis erweisen sollte?

Es gab einen großen und einschneidenden Moment: Die Luftangriffe der Nato auf Belgrad, die Hauptstadt Serbiens, im Jahr 1999, während des Kosovokrieges. Damals musste die russische Regierung die Erfahrung machen, nicht einmal mehr zu Rate gezogen zu werden. Russland verstand sich als Verbündeter Serbiens, spielte in den Kriegen auf dem Balkan aber keine Rolle mehr. In Moskau herrschte Konfusion. Warum gab es die Nato noch? Und weshalb demütigte sie Russland auf diese Weise? Solche Fragen standen am Beginn der langsam einsetzenden Absetzbewegung Russlands vom Westen.

Woraufhin Putin sich dann daran machte, das Imperium wiederherzustellen? 2001 gab er sich in seiner vielbeachteten Rede im Deutschen Bundestag noch überaus friedfertig, während russische Truppen das tschetschenische Grosny zuvor in Schutt und Asche gelegt hatten.

Russlands Präsident zeigt eine bemerkenswerte Ausdauer bei der Verfolgung seiner Ziele. Macht hat, wer warten kann, wer den entscheidenden Moment erspürt. Putin hat im Geheimdienst gelernt, worauf es ankommt, wie man seine Absichten verschleiert und am Ende doch bekommt, was man will. Putins Aggression kommt aus den Lehren, die er aus den Erfahrungen des Jahres 1991 gezogen hat.

Also aus den Ereignissen, die zur Auflösung der Sowjetunion geführt haben.

Putin hat dieses Ereignis einmal als die "größte geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts" bezeichnet. Aus seiner Sicht hätte die Sowjetunion nicht zerfallen müssen, nicht zerfallen dürfen. Diesen "Fehler" will Putin nun korrigieren. Indem er der Ukraine eine eigene Staatlichkeit abspricht und sie deshalb wie eine abtrünnige Republik mit Krieg überzieht. Putin ist keineswegs ein Zyniker, der sich die Geschichte so zurechtlegt, wie er sie für seine Zwecke gebrauchen kann. Für ihn ist die Ukraine Teil des russischen Imperiums.

Das klingt nach der Gedankenwelt eines Ewiggestrigen.

Wir denken in nationalstaatlichen, Putin in imperialen Kategorien. Denn die Sowjetunion, als dessen Erbe sich Russland versteht, war ein Vielvölkerreich. Für Putin ist die Ukraine ein künstliches Gebilde ohne Existenzberechtigung, geschaffen von Politikern, die die Sowjetunion fahrlässig aufgelöst hatten. Er sieht die Welt aus der Perspektive imperialer Macht, er versteht nicht, dass die Ukraine dreißig Jahre nach dem Ende der Sowjetunion ein Nationalstaat ist, der sich in das alte Imperium nicht mehr einfügen lässt.

Diese Denkweise klingt nun in der Tat nach der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Genau wie Putins Krieg gegen die Ukraine dem vorherigen Jahrhundert zu entspringen scheint.

Die Sowjetunion ist nicht durch Krieg oder Revolution untergegangen, sondern durch einen Regierungsakt. Darüber kommen Putin und seine Gefolgsleute nicht hinweg. Und deswegen glauben sie, den vermeintlichen Irrtum der Vergangenheit korrigieren zu müssen und zu können. Sie wollen nicht anerkennen, dass sich die Republiken der UdSSR inzwischen in Nationalstaaten verwandelt, sich vom Imperium gelöst haben. Das herausragende Beispiel ist die Ukraine, die seit der russischen Annexion der Krim 2014 einen bemerkenswerten Prozess der Identitätsfindung über alle sprachlichen und kulturellen Grenzen erlebt.

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Nun scheint diese Entwicklung in Moskau entweder nicht wahrgenommen worden zu sein. Oder Putin will sie gezielt zerstören.

Die Frage ist, was Putin überhaupt noch wahrnimmt. Er leidet unter dem Dilemma aller Autokraten, nämlich einem eklatanten Informationsdefizit. Er umgibt sich nur noch mit Dienern, die ihm das berichten, was er hören will. Auf dieser Basis trifft Russlands Präsident Entscheidungen.

Wann wird er denn entscheiden, dass der Krieg vorbei sein soll?

Der russische Präsident braucht einen Erfolg, den er als Sieg verkaufen kann. Es wird vom Verlauf des Krieges abhängen, was am Ende als Sieg gelten kann und von der Widerstandsfähigkeit der Ukraine. Es ist nicht unwahrscheinlich, dass die Ukraine am Ende eines zermürbenden und zerstörerischen Krieges nachgibt, weil den meisten Menschen ein Leben im Frieden lieber ist als der Heldentod. Darauf vertraut Putin, weil seine Armee zu großen Operationen nicht mehr in der Lage ist. Und möglicherweise wird ihm genau das gelingen.

Wladimir Putin ist bereit, zahlreiche seiner Soldaten in den Tod zu schicken. Von den ukrainischen Soldaten und Zivilisten ganz zu schweigen. Wie schätzen Sie seine Persönlichkeit ein? Manche Beobachter attestieren ihm gar einen völligen Realitätsverlust.

Putin weiß genau, was er tut. Und dennoch können wir uns Menschen, die Gewalt und Zerstörungen als Mittel zur Durchsetzung ihrer Ziele einsetzen, offenbar nur als Verrückte vorstellen. Es fällt uns leichter, den Schrecken zu bewältigen, wenn wir die Täter pathologisieren und für anormal erklären.

Auch Elwira Nabiullina, Präsidentin der russischen Zentralbank, hält den Krieg allem Anschein nach wegen der gravierenden Folgen für irrational.

Putin ist die Ehre wichtiger als die Ökonomie, wie Elwira Nabiullina erfahren musste. In seiner Gedankenwelt sind Ehre und Männlichkeit, Militär und Gewalt positiv besetzte Begriffe. Für Putin ist der Krieg eine Möglichkeit, die man ergreifen kann und muss, wenn man sich davon einen Gewinn verspricht. Putin vertraut darauf, dass die mehr oder weniger geschlossene Front des Westens einbrechen wird, weil sich dort niemand zum Helden machen will und weil die Wirtschaftskrise die verwöhnten Europäer am Ende härter treffen könnte als Russland, dessen Bevölkerung mit Entbehrungen besser umzugehen versteht. Putin spielt auf Zeit – und er ist bereit, den Krieg zur Not monatelang weiterzuführen. An seiner Entschlossenheit und Rücksichtslosigkeit sollten wir nicht zweifeln.

Halten Sie es für realistisch, dass einzelne Staaten die Einheitsfront gegen Russland verlassen werden?

Ungarn unter dem frisch wiedergewählten Viktor Orbán hat diese Abkehr faktisch bereits vollzogen. Je länger der Krieg dauert, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit, dass das Interesse an der Ukraine im Westen erlischt. Putin sitzt einfach am längeren Hebel, weil er und sein autoritäres Regime auf ihre Bürger, auf die öffentliche Meinung keine Rücksicht nehmen und auch keine Wahlen gewinnen müssen.

Die Bundesregierung unter Olaf Scholz laviert, wenn es um die Lieferung schwerer Waffen für Ukraine geht. Ist es Rücksicht, weil man den Konflikt mit Russland nicht eskalieren lassen will?

Deutschland hat sich aus guten Gründen in einer Kultur des Pazifismus eingerichtet. Und es ist richtig, dass der Kanzler über die Konsequenzen nachdenkt, die eintreten könnten, wenn Deutschland sich in diesem Krieg engagiert. Früher nannte man das Realpolitik, man könnte aber auch von Verantwortungsethik sprechen. Ich verstehe nicht, warum das keine ehrenwerte Haltung sein soll.

Diese Tatsache ist auch im Kreml wohlbekannt. Sind wir Deutschen möglicherweise zu berechenbar?

Putin weiß sehr genau, dass hierzulande wahrscheinlich niemand für die Verteidigung der Ukraine sein Leben riskieren würde. Die meisten Polen hingegen würden es ohne Zweifel tun, weil auch für sie etwas auf dem Spiel steht.

Kommen wir aber noch einmal auf diese ungeheure Gewalt zurück, die Russland unter Wladimir Putin entfesselt hat und die Polen wie auch die Baltischen Staaten fürchten. Wie erklärt sich diese?

Die Bilder aus der Ukraine sind verstörend. Russlands Armeen zerstören die Infrastruktur eines Landes, das sie eigentlich erobern wollen. Wie soll man sich das erklären? Ich vermute, dass diese Zerstörungswut aus der Frustration kommt. Putin weiß, dass er keinen vollständigen militärischen Sieg erringen wird. Deshalb vernichtet er die Lebensgrundlagen der Ukraine.

Nun haben Russland und seine Menschen eine fast unvorstellbare Gewalt im 20. Jahrhundert erfahren. Einerseits durch die nationalsozialistischen Invasoren, aber auch durch den Terror, den der Diktator Josef Stalin gegen die eigene Bevölkerung angewandt hat. Wieso gelingt es nicht, den Teufelskreis der Gewalt zu durchbrechen?

Deutschland hat aus den Verbrechen und Zerstörungen des Zweiten Weltkriegs gelernt, seine Regierungen wissen, dass sie auf gewaltfreiem Wege mehr denn je erreichen können. Deutschland ist einflussreich, weil es sich mit seinen Nachbarn friedlich vernetzt hat. Russland, wie schon die Sowjetunion, hat der Welt wenig zu bieten außer Waffen und Rohstoffen. Seine politischen Führer glauben, dass man mit Gewalt viel erreichen kann. Und leider fand dieser Glaube immer wieder eine Bestätigung, zuletzt in Tschetschenien, als das russische Militär Grosny zerstörte.

Grosny wurde auch deshalb dem Erdboden gleichgemacht, um eine Abschreckungswirkung nach innen und außen zu erzielen.

Richtig. Einen solchen Krieg führt man aber nicht aus einer Haltung der Stärke, sondern aus dem Geist der Schwäche. Russland ist nicht stark, das sehen wir auch in diesen Tagen. Wer schwach ist, sich nicht durchsetzen kann, isoliert ist, greift auf Gewalt zurück. Die Gewaltbereitschaft der russischen Staatlichkeit wird aber auch durch die Schwäche der Zivilgesellschaft begünstigt. Es gibt keine organisierten gesellschaftlichen Strukturen, die sich gegenüber dem Staat behaupten könnten.

Nicht zuletzt müsste die russische Armee reformiert werden.

Die russische Armee ist seit Jahrhunderten ein wanderndes Gefängnis, in dem die Ärmsten der Armen dienen. Jede Familie in Russland, die es sich erlauben kann, zahlt Bestechungsgelder, damit die Söhne nicht zum Wehrdienst eingezogen werden. Im Grunde dienen in Russlands Armee Bauern, arme Menschen und Angehörige ethnischer Minoritäten, die sich ihrer Rekrutierung nicht widersetzen können.

Und in diesem Krieg lässt sich erneut beobachten, wie rücksichtlos Russlands Militärführung mit dem Leben der Soldaten umgeht.

Die Generäle behandeln ihre Soldaten wie Kanonenfutter, weil sie offenbar glauben, dass einfach genug Soldaten nachkommen werden. Es gibt in der russischen Armee keine innere Führung, keine Eigenständigkeit und Unabhängigkeit der unteren Offiziere, wie es in der Bundeswehr Brauch ist. Der russische Staat versteht Menschen als sein Eigentum, als Verfügungsmasse, die er nach Belieben für seine Ziele einsetzen kann.

Die meisten Russen fürchten den Staat als eine gewaltige Maschine, gegen die der Einzelne machtlos ist. Das gilt vor allem für die Armee. Und was tun Menschen, die gedemütigt und misshandelt werden? Sie lassen ihre Verzweiflung und ihren Zorn an Menschen aus, die sich nicht wehren können, mit denen sie genauso verfahren, wie die eigene Obrigkeit mit ihnen verfährt. Diese Wirklichkeit können wir nun in der Ukraine besichtigen.

Der russische Misserfolg vor Kiew hat viele Experten überrascht, die davon ausgingen, dass Russlands Militär etwa in Syrien Kampferfahrung erworben hätte.

Die Kriege in Tschetschenien und Syrien waren doch alles andere als militärische Erfolge. Die Armee zerstörte, was sie nicht erobern konnte und hinterließ verwüstetes Land. Von militärischer Effizienz kann nicht die Rede sein. Und auch in der Ukraine zeigt sich, dass Russlands Armee schlecht geführt wird. Wie kann man Panzer und LKW-Kolonnen ohne Begleitung der Infanterie ungesichert auf asphaltierten Straßen fahren lassen, wo sie zu einer leichten Beute der Verteidiger wurden? Nicht einmal die Logistik der russischen Streitkräfte wird den Anforderungen des modernen Bewegungskrieges gerecht.

Nun soll aber eine neue Großoffensive im Osten der Ukraine endlich die gewünschten Erfolge bringen.

Die russische Armee hat den Moment der Überraschung verpasst, die Verteidiger wissen nun, was sie tun müssen, um die Invasoren aufzuhalten. Die Kampfmoral der russischen Soldaten ist gebrochen, ihre Kampfkraft gering. Sie werden zweifellos große Verluste erleiden. Ich befürchte, dass die russische Armee aus diesem Grund mit Charkiw, Kramatorsk oder Slowjansk genauso wie mit Mariupol verfahren wird.

Also die Stadt systematisch zerbomben. Sehen Sie einen Ausweg, der den Krieg ohne dieses Szenario enden lassen könnte?

Ich habe Zweifel, ob es gelingen wird, durch die Lieferung schweren Kriegsgeräts an die Ukraine den Konflikt zu beenden. Putin wird sich nicht geschlagen geben, weil er sich eine Niederlage nicht leisten kann. Die Folgen eines langwierigen Zerstörungs- und Vernichtungskrieges werden für Russland und die Ukraine verheerend sein. Insofern handelt Bundeskanzler Olaf Scholz weise, wenn er die möglichen Folgen kalkuliert, die sich aus einer Ausweitung des Krieges ergeben könnten.

Jetzt kommt es darauf an, einen neutralen Vermittler zu finden, der einen Frieden aushandelt, von dem beide Seiten einen Gewinn haben. Eine andere Lösung kann es gar nicht geben, wenn wir einen langen Zermürbungskrieg verhindern wollen.

Was würde Putin denn als "ehrenhaft" empfinden, um in seiner Diktion zu bleiben?

Putin will erreichen, dass die Annexion der Krim akzeptiert, vielleicht auch der Donbass preisgegeben wird. In jedem Fall aber möchte er verhindern, dass die Ukraine in die Nato aufgenommen wird. Wir wissen nicht, was die Ukraine am Ende des Krieges verlangen könnte. Eine Mitgliedschaft in der Europäischen Union würde ihr jene Sicherheit geben, die sie jetzt nicht hat, weil Rußland kein Land angreifen würde, das der Europäischen Union angehört.

Wer weiß, ob sich Russlands Aggression am Ende nicht als Pyrrhussieg erweisen könnte. Denn wer möchte denn in einem vom Krieg zerstörten und von Russland besetzten Territorium leben? Und warum sollte die Ukraine nicht auf Zeit spielen, Kompromisse eingehen, weil sie in zehn Jahren vielleicht auf friedlichem Weg erreichen könnte, was jetzt nicht gelingen kann? Was immer auch geschehen wird: Ohne eine Garantiemacht wird es wahrscheinlich keinen Frieden geben können, der den nächsten Tag überdauert.

So oder so wird Wladimir Putin, der mit 69 Jahren nicht mehr jüngste ist, Russlands starker Mann bleiben. Deutet sich an, wer seine Nachfolge antreten könnte?

Nein. Das liegt auch nicht in der Logik autoritärer Systeme. Die Stabilität von Putins Regime beruht darauf, dass die Nachfolge im Unklaren bleibt. Wenn bekannt würde, wer der Prätendent ist, wäre Putins Macht gefährdet.

Wenn Putin schwer erkranken oder gar sterben würde, ließe dies Russland also führungslos zurück.

Das ist zu befürchten. Wir müssen auf Russland einwirken, dürfen den Kontakt nicht abbrechen zu all jenen, die die Hoffnung noch nicht verloren haben, dass aus Russland ein anderes Land werden könnte. All die jungen und gebildeten Menschen, die Russland jetzt verlassen, sind eigentlich unsere Hoffnung. Wir müssen sie ermuntern, ermutigen, damit sich in Russland etwas bewegt, eine andere Wahl haben wir nicht.

Eine letzte Frage: Mit Rückgriff auf die Geschichte wird Wladimir Putin oft mit Josef Stalin verglichen. Was halten Sie davon?

Der Stalinismus war ein System mit totalitärem Anspruch, das sich zum Ziel gesetzt hatte, die gesamte Gesellschaft zu mobilisieren, zu verändern und "Feinde" aus ihr zu entfernen. Und dieses Ziel verfolgten Stalin und seine Gefolgsleute mit brutaler Gewalt. Allein in der Ukraine und in Kasachstan verhungerten in den Dreißigerjahren des vergangenen Jahrhunderts mehrere Millionen Menschen, mehr als 1,5 Millionen Sowjetbürger wurden verhaftet und in Lager eingesperrt. In den Jahren 1937 und 1938 ließ Stalin fast 700.000 Menschen erschießen. Derartige Dimensionen erreichen Putins Repressionen nicht – zum Glück. Wir brauchen keinen Hinweis auf Stalin, um Putins Handeln zu verstehen und zu verurteilen.

Professor Baberowski, vielen Dank für das Gespräch.

Verwendete Quellen
  • Persönliches Gespräch mit Jörg Baberowski via Telefon
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