Kommt der "No Deal"? Trotz "Fristende": Gespräche über Brexit gehen weiter
Brüssel/London (dpa) - Die Gespräche über einen Brexit-Handelspakt Großbritanniens mit der Europäischen Union werden doch noch einmal fortgesetzt. Darauf einigten sich EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen und der britische Premierminister Boris Johnson bei einem Telefonat, wie beide Seiten mitteilten.
"Wir hatten ein konstruktives und nützliches Telefongespräch heute Morgen. Wir haben die bedeutendsten ungelösten Themen diskutiert", sagte von der Leyen. Trotz der Erschöpfung nach fast einjähriger Verhandlung und mehrfach gerissener Fristen seien beide der Ansicht, dass es verantwortungsvoll sei, noch eine letzte Anstrengung zu unternehmen, sagte die EU-Kommissionschefin. Man habe die Unterhändler beauftragt, die Verhandlungen fortzusetzen. Die Regierung in London veröffentlichte eine gleichlautende Mitteilung.
Die Positionen Großbritanniens und der EU lägen bei einigen Schlüsselfragen noch "sehr weit auseinander", sagte kurze Zeit später Johnson in einem Gespräch mit TV-Reportern in London. Die Hoffnung, dass es doch noch zu einem Deal komme, wollte er aber noch nicht aufgeben. "Wir werden weiter miteinander sprechen und sehen, was wir tun können." Er habe auch sein Angebot erneuert, mit einzelnen EU-Hauptstädten direkt in Verhandlungen zu treten, so der britische Premier. Trotzdem müsse man auf ein Scheitern vorbereitet sein. Was auch immer geschehe, Großbritannien werde es "sehr, sehr gut gehen", betonte er.
Eine neue Frist wurde zunächst nicht genannt. Ursprünglich hatte am Sonntag die nun endgültige Entscheidung darüber fallen sollen, ob die Verhandlungen über einen Handelspakt abgebrochen werden oder doch noch ein Deal zustande kommt. Darauf hatten von der Leyen und Johnson sich am Mittwoch bei einem Treffen in Brüssel geeinigt.
Sollte bis spätestens zum 31. Dezember kein Abkommen geschlossen werden, würden Zölle und andere Handelshemmnisse den Handel zwischen Großbritannien und der EU bedeutend erschweren. Auch in anderen Bereichen dürfte es zu schweren Verwerfungen kommen. Dann läuft die Übergangsphase aus, während der trotz des bereits erfolgten Austritts der Briten bisher weitgehend alles beim Alten blieb.
Gestritten wird vor allem über die Sicherstellung fairer Wettbewerbsbedingungen und den Zugang europäischer Fischer zu britischen Gewässern. Auch über die Instrumente zur Durchsetzung des Abkommens herrscht kein Konsens.
Irlands Außenminister Simon Coveney zeigte sich nach der Ankündigung am Sonntag vorsichtig optimistisch. "Es ist ein gutes Signal, dass wir ein gemeinsames Statement haben", schrieb Coveney auf Twitter. Ein Abkommen sei eindeutig schwierig, aber möglich. Nun müsse man die Nerven behalten und den Unterhändlern die Möglichkeit geben, sich Stück für Stück vorwärts zu bewegen.
Bundeskanzlerin Angela Merkel hatte zuvor betont, dass alles versucht werden solle, um zu einem Ergebnis zu kommen. Jede Möglichkeit, noch zu einem Ergebnis zu kommen, sei hoch willkommen, sagte Merkel am Sonntag in Berlin nach Beratungen von Bund und Ländern zum weiteren Vorgehen in der Corona-Krise. Den schwierigsten Punkt sieht Merkel bei der Frage der fairen Wettbewerbsbedingungen.
EU-Ratschef Charles Michel bekräftigte am Sonntag die Geschlossenheit der EU. Zwischen die verbleibenden 27 Staaten passe kein Blatt Papier, sagte er im französischen Radiosender France Info. Man solle alles versuchen, um ein Abkommen möglich zu machen – einen guten Deal solle man unterstützen.
Theoretisch wäre noch Zeit bis kurz vor dem Jahreswechsel für die Verhandlungen. Allerdings müsste ein Abkommen noch ratifiziert werden oder beide Seiten müssten sich auf eine vorläufige Anwendung einigen. Das Europaparlament sieht das allerdings sehr kritisch.
Druck kommt auch von der britischen Wirtschaft. Der britische Unternehmensverband CBI (Confederation of British Industry) warnte am Sonntag vor den Folgen eines Scheiterns. "Ein Deal ist sowohl unabdingbar als auch möglich", sagte CBI-Generaldirektor Tony Danker einer Mitteilung zufolge. Vor allem aber müsse die Regierung in London Unternehmen klarere Vorgaben machen, welche Vorbereitungen für den Fall der Fälle zu treffen seien. Außerdem forderte er, selbst bei einem Scheitern der Verhandlungen Übergangsfristen für die Einführung von Formalitäten zu vereinbaren und die am härtesten von einem No Deal betroffenen Unternehmen zu unterstützen.