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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Naturschatz Neuwerk Mit zwei Pferdestärken durchs Wattenmeer
Die Nordseeinsel gehört zu Hamburg-Mitte, auch wenn sie 105 Kilometer vom Rathaus entfernt ist. Hin geht es per Kutsche oder zu Fuß. Schauen Sie sich das idyllische Kleinod auch in unserer an.
Ihre schwarze Mütze hat sie tief ins Gesicht gezogen, den blauen Daunenanorak bis zum Hals zugeknöpft. "Ich bin Loni", stellt sie sich hoch oben auf ihrem gelben Wagen vor. Und fragt ihre Passagiere gleich aus: "Wart Ihr schon mal drüben? Nein? Dann kann ich ja ein bisschen Seemannsgarn erzählen." Seit 15 Jahren kutschiert Loni Greineisen Besucher zehn Kilometer über die Nordsee auf das idyllische Eiland Neuwerk.
Wie zu einem Küsschen spitzt die 64-Jährige ihren Mund und macht einen zärtlichen Schmatzer. Schon traben die beiden polnischen Kaltblüter Obelix, der Schimmel, und Penny, der Rappe, mit ihren dicken Hufen los. Der große Treck setzt sich in Bewegung: Zehn gelbe Wattwagen holpern mit jeweils zwei Pferdestärken langsam den honigfarbenen Sandstrand von Sahlenburg hinunter auf den grau-braunen Meeresgrund. Der trifft in der Ferne den blauen Horizont. Nur ein kleiner Punkt schiebt sich dazwischen: Hamburgs Vorposten in der Nordsee.
Strategisch gut gelegen
Schon 1298 haben sich die Reeder und Kaufleute der Hansestadt das drei Quadratkilometer große Inselchen gesichert. Die strategische Lage vor der Mündung der Elbe war optimal, um ihre Lebensader vor Piraten zu schützen. Heute gehört Neuwerk zum Bezirk Mitte, was selbst die meisten Hamburger nicht wissen. 2011 wurden das Eiland und der Hamburgische Nationalpark Wattenmeer als einzigartige Landschaft zum Unesco-Weltnaturerbe ernannt. So wie der Grand Canyon in den USA oder das Great Barrier Reef in Australien.
Loni muss Obelix und Penny bremsen, auch wenn die beiden längst Profis im Wattenmeer sind. Dass Pferde keine nassen Füße lieben, keinen scharfen Wind um die Nase mögen, und bei grenzenloser Weite anfangen zu laufen, habe man ihnen abtrainiert, erzählt die Kutscherin. Eine Spazierfahrt ist die Tour durchs Watt für sie nicht.
Das Wasser ist immer da
Schier endlos reihen sich die Pricken, die wie umgedrehte Reisigbesen im Sand stecken und den sicheren Weg weisen. Doch was ist schon sicher im Wattenmeer. "Das Wasser ist da, auch wenn man es nicht immer sieht", sagt Loni. "Denn das Wetter kann ganz schnell umschlagen." Die erste Herausforderung ist der Sahlenburger Priel, ein tiefer Wasserlauf im Watt. "Der gefährlichste", erläutert sie. "Wenn der Wind das Wasser hereintreibt, geht es den Pferden bis zum Bauch." Dann lenkt sie ihre Mitfahrer mit Seemannsgarn ab, erzählt, dass das eine Lachstreppe sei und schmunzelt, wenn alle drauf warten, dass die Lachse springen.
Eigens einen Wattführerschein musste Loni absolvieren, damit sie Besucher nach Neuwerk kutschieren darf. Diszipliniert fährt sie in der Kolonne. Überholt wird nicht. Wenn ein Pferd muss, machen alle Halt. Angeführt wird der Zug von Volker Griebel(62). Seit 151 Jahren lebt seine Familie auf Neuwerk. Er ist der Insel-Ortswart und hat eine Lizenz als Hauptfahrer. Mit der darf er die Wagen hinter sich herfahren lassen.
Rettungsbaken als letzte Hoffnung
Muschelbänke, auf denen Silbermöwen ihr köstliches Mahl knacken, säumen den Weg. Die Wattwanderer folgen den Pferdespuren. Zu Fuß dauert die Tour zweieinhalb bis drei Stunden auf die Insel. Wie Vogelkäfige ragen acht Meter hohe Rettungsbaken in den Himmel. In denen können sich Fußgänger vor dem Wasser in Sicherheit bringen, wenn sie die Tide falsch eingeschätzt haben.
Langsam zeigt das Eiland am Horizont Formen. Wie ein Lug ins Land leuchtet der mächtige rote Backsteinturm dem Treck entgegen; er ist das Wahrzeichen von Neuwerk. 39 Meter hoch haben die Hamburger seine dicken Mauern gezogen, 138 Stufen führen bis zur Aussichtsplattform. Vor 705 Jahren wurde er eingeweiht und ist damit das älteste Bauwerk der Hansestadt. 33 Einwohner leben derzeit auf Neuwerk mit 115 Rindern und Pferden. Jahrelang war die kleine Inselschule verwaist. 2016 wird wieder ein Kind eingeschult.
Der Friedhof der Namenlosen
Nach gut einer Stunde erreichen Obelix und Penny wieder festen Boden unter ihren Hufen. Den Friedhof der Namenlosen lassen sie rechts liegen. Hier wurden die angespülten Leichen unbekannter Seeleute begraben. Die Neuwerker selbst wollen lieber auf dem Festland zur ewigen Ruhe gebettet werden. Gezogen von einem Vierergespann und begleitet von einer Reitereskorte führt ihr letzter Weg noch einmal durchs Watt. Auf der Hälfte der Strecke übernehmen die Reiter vom Festland.
"Jetzt brauchen wir einen heißen Eiergrog", sagt Loni, während sie Obelix und Penny vor ihrem Stall ausspannt. Der hat mit seinem kräftigen Schuss Rum ganz schön Dampf. Die Insel im Rausch - im September und Oktober sorgen dafür Klänge und Farben. Mit der berühmten Kakofonie Tausender gefiederter Gäste, die auf ihrem Rückweg aus Grönland und Sibirien auf Neuwerk Rast machen. Dazu verwandelt der Indian Summer die saftigen, grünen Salzwiesen mit den Schlickgräsern und Quellern in ein leuchtendes Gelb und Purpur.
Ende Oktober werden die gelben Wagen für den Winter eingemottet. Ein paar Mal hat sich Loni dann nach Davos in die Schweizer Berge abgesetzt, um Gäste durch den Schnee zu kutschieren. "Doch da ist es mir zu kalt", schüttelt sie sich. Nun macht sie Pause bis Ostern. Dann ziehen Obelix und Penny wieder täglich durchs Wattenmeer.
Weitere Informationen:
- Anreise: Ab Cuxhaven-Sahlenburg: Die Wattfahrten und Wanderungen richten sich nach den Gezeiten. Tagesausflügler können nach etwa fünf Stunden bei Flut von Neuwerk aus mit dem Personenschiff MS Flipper zurück nach Cuxhaven fahren, Tel. 04721/35082, www.cassen-eils.de,
- Kombi Wattwagen/Schiff: 39 Euro pro Person.
- Hin und Rückfahrt mit dem Wattwagen mit acht Stunden Inselaufenthalt: 40 Euro pro Person.
- Auf Neuwerk gibt es drei Wattwagenbetriebe, bei denen die Fahrt gebucht werden kann:
Thomas Fischer, Tel. 04721/28770, E-Mail fischer.wattwagen-neuwerk@t-online.de, www.wattwagen-fischer.de;
Werner Fock, Tel. 04721/29043, E-Mail info-neuwerk@t-online.de, www.wattfahrten.de;
Volker Griebel, Tel. 04721/29076, E-Mail info@husachterndiek.de, www.wattwagenfahrten.de; - Unterkünfte: Etwa 110 Betten in Pensionen, 75 in Ferienwohnungen, drei Zeltplätze und ein Heuhotel mit Strohlager gibt es auf Neuwerk.
- Alle Unterkünfte und Informationen über www.nationalpark-wattenmeer.de.