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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Unterschätztes Massenproblem Das Leid der Drogenkinder
Die Rentenversicherung zahlt die Reha suchtkranker Menschen, die Krankenversicherung deren gesundheitliche Versorgung. Aber was, wenn diese Patienten Kinder haben?
Die Mutter trinkt. Sie sitzt apathisch auf dem Sofa. Die 15-jährige Natalie kümmert sich so gut es geht um die beiden kleineren Schwestern. Doch die Mutter gibt Natalie die Schuld an ihrer desolaten Lage. "Wegen euch Scheiß-Gören habe ich meinen Job verloren. ... Am besten hätte ich Dich überhaupt nicht gekriegt. Dann wäre Dein Scheiß-Vater auch nicht abgehauen." Die Mutter wird handgreiflich. Die Familie ist arm, sie lebt im Plattenbau. In der Schule wird Natalie gemobbt.
Der Film "Glück ist eine Illusion" schildert - anonymisiert - das Leben einer Jugendlichen in einer zerrütteten Familie mit einer alkoholkranken Mutter. Das Mädchen hatte sich nach langem Zureden einer Lehrerin geöffnet. Keine Frage, die suchtkranke Mutter braucht Hilfe. Und die Kinder? Sie sind nicht auf dem Radarschirm des Sozialsystems.
Medizinische Versorgung und Reha-Maßnahmen konzentrieren sich auf die Betroffenen, auf die Patienten. Woher auch sollen Kinder und Jugendliche wissen, wie sie mit der Sucht oder den Depressionen von Vater oder Mutter umgehen sollen? Wer sagt ihnen, dass sie nicht Schuld sind an dem Drama? Ohne Hilfe für beide Seiten kann der Teufelskreis kaum durchbrochen werden.
Kinder von Drogenabhängigen werden oft selbst abhängig
Kinder süchtiger Eltern gelten als größte Risikogruppe, im Laufe ihres Lebens selbst alkohol- oder drogenabhängig beziehungsweise spielsüchtig zu werden. Sie zeigen im Vergleich zu Gleichaltrigen deutlich häufiger Verhaltensauffälligkeiten wie Konzentrationsschwäche und übermäßigen Bewegungsdrang (ADHS). Frauen aus Alkoholikerfamilien sind nach Angaben von Experten häufig selbst wieder mit Alkoholikern zusammen.
Mehr als drei Millionen Kinder und Jugendliche haben mindestens einen suchtkranken Elternteil, vor allem geht es um Alkohol (2,65 Millionen), aber auch Drogen und Spielsucht. Die Dunkelziffer ist hoch. Die Sucht der Eltern sei oft das "am besten gehütete Familiengeheimnis überhaupt", bei dem auch die Kinder mitmachten, sagte die Drogenbeauftragte der Bundesregierung, Marlene Mortler (CSU), der dpa.
Um an betroffene Kinder ranzukommen, muss man ihre Sprache sprechen und ihre Kommunikationsmittel nutzen. "Häufig ist es für einen 15-Jährigen leichter, den ersten Schritt zur Hilfe im Netz zu gehen, unter Umständen sogar anonym", erläutert die Drogenbeauftragte. Deshalb geht gerade für Jugendliche mit suchtkranken Eltern - quasi als Soforthilfe - das bundesweite Onlineberatungsangebot "KidKit networks" an den Start.
Die Zusammenarbeit der Behörden sollte verbessert werden
Zudem sollte die Zusammenarbeit der zuständigen Behörden, insbesondere von Jugendhilfe und Suchthilfe, verbessert werden. Suchthilfe hat vor allem den Patienten selbst im Blick, nicht das (familiäre) Umfeld. Und die Jugendhilfe merkt möglicherweise, dass mit dem betroffenen Kind etwas nicht stimmt, erkennt aber oft die Ursachen nicht.
"Wenn ein Kind erkennbar Hilfe braucht, müssen alle an einem Strang ziehen" - Jugendämter, Suchthilfe, öffentlicher Gesundheitsdienst vor Ort. In Dresden etwa "beginnt die Zusammenarbeit schon in der Geburtsklinik: Wenn auffällt, dass Eltern suchtkrank sind, dann informiert das Krankenhaus das Jugendamt und die Suchthilfe. Dann schauen alle gemeinsam, wie man der Familie von Beginn an zur Seite stehen kann", erzählt Mortler und würde sich eine solche Kooperation überall wünschen.
In Baden-Württemberg und Bayern gibt es eine Initiative Schulterschluss, die Beteiligte zusammenbringen und bei der Bildung tragfähiger Netzwerke für betroffene Familien unterstützen will. Zwischen 150 000 und 200 000 Euro liegen die Kosten für eine solche Initiative. Das kann sich eigentlich jedes Bundesland leisten.
Jedes Jahr werden 160 000 Kinder in suchtbelastete Familien hineingeboren
Aber auch der Bund ist gefordert: Zwischen den Säulen des Sozialsystems müssen Brücken gebaut werden, fordert Mortler. So finanziert die Rentenversicherung zwar die Reha der Eltern und die Krankenkassen Gesundheitsbehandlungen. Für die Kosten der Hilfe für deren Kinder fühlt sich aber keiner richtig zuständig.
Mortler hat in diesem Jahr Kinder aus suchtbelasteten Familien zu einem Schwerpunktthema ihres Drogen- und Suchtberichts gemacht. Am Montag spricht sie in Berlin auf einer Tagung mit Fachleuten und Betroffenen darüber. Noch im Juni soll es zu einer Entschließung des Bundestages kommen, die die Bundesregierung zum raschen Handeln auffordert. "Wir können es uns als Gesellschaft nicht leisten, wenn jedes Jahr über 160 000 Kinder in suchtbelastete Familien hineingeboren und ihrem Schicksal überlassen werden", mahnt Mortler.