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Wann bei Kindern das Schamgefühl einsetzt


Erziehung
Kleine Nackedeis - wann Kleinkinder Scham empfinden

"Schäm dich!" ist ein Klassiker der pädagogischen Statements und wird auch heute noch von vielen Eltern benutzt, wenn sie ihren Sprösslingen vermitteln wollen, dass sie etwas falsch gemacht haben. So wird der Nachwuchs gerügt, wenn er etwa zu frech war oder beispielsweise gelogen hat. Doch Schamgefühl entwickelt sich auch in Bezug auf körperliche Nacktheit. Wie diese Emotion bei Kindern entsteht und welche Bedeutung sie hat, erklärt eine Expertin.

Aktualisiert am 24.05.2013|Lesedauer: 5 Min.
t-online, Nicola Wilbrand-Donzelli
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Linus ist zwei Jahre alt und liebt es, nach dem Baden splitterfasernackt durch die warme Wohnung zu rennen. Er ist dabei völlig unbefangen und stört sich nicht an seiner Blöße. Linus' fünfjährige Schwester Pia reagiert in dieser Hinsicht wesentlich schamhafter. Sie mag es gar nicht mehr, wenn sie andere - vor allem Fremde - nackt sehen. Auch die Toilettentür macht sie neuerdings immer zu, wenn sie ihr Geschäft erledigt. "Da muss ja nicht jeder zugucken. Ich bin ja kein kleines Baby", sagt sie. "Papa schließt ja auch immer ab und will seine Ruhe, wenn er auf dem stillen Örtchen ist."

Scham empfinden die Kleinen erst ab dem Kindergartenalter.Vergrößern des Bildes
Scham empfinden die Kleinen erst ab dem Kindergartenalter. (Quelle: Thinkstock by Getty-Images-bilder)

Scham wird ab dem Kindergartenalter empfunden

Warum sich Pia anders als ihr jüngerer Bruder verhält, erklärt Diplom-Psychologin Bettina Schuhrke von der Evangelischen Hochschule Darmstadt gegenüber dem Elternportal von t-online.de: "Scham entsteht etwa ab dem Kindergartenalter. In dieser Phase ist man durch die Persönlichkeitsentwicklung in der Lage eigene Unzulänglichkeiten in Bezug auf bestimmte Wertmaßstäbe und Regeln wahrzunehmen. Voraussetzung für diese Emotion ist allerdings, dass eine als beschämend empfundene Situation in Anwesenheit anderer Personen geschieht. Dabei gibt es verschiedene Anlässe sich zu schämen, wie zum Beispiel Leistungsscham, moralische Scham oder auch Körperscham im Zusammenhang mit Nacktheit und Toilettengang."

Das entstehende Bewusstsein über die eigenen "Schwächen" und die daraus resultierende Schamreaktion geht also Hand in Hand mit dem Wissen der Kinder, wie sie von anderen gesehen werden. Das setzt auch voraus, dass sie gelernt haben, Motive und Ansichten anderer von den eigenen zu unterscheiden und sich in andere Menschen hineinzuversetzen, also fähig sind, die Perspektive zu wechseln.

Kulturelles Umfeld legt Schamgrenzen fest

Abhängig ist körperliches Schamgefühl jedoch nicht nur vom Alter des Kindes: Auch die jeweils geltenden Normen einer sozialen Gemeinschaft definieren letztendlich, was bezüglich Nacktheit als beschämend empfunden wird und was nicht. "Grundsätzlich ist ein Mensch zur Entwicklung der Emotion Scham fähig. Das ist biologisch angelegt", kommentiert Expertin Schuhrke. "Aber weswegen sich Menschen dann konkret schämen, wird durch das kulturelle Umfeld festgelegt."

Eltern leben Schamverhalten vor

Im Vergleich zu den eher prüden USA, wo sogar Kleinkinder nicht ohne Badebekleidung am Strand herumlaufen sollen, haben sich die "moralischen" Orientierungspunkte hierzulande in den letzten Jahrzehnten liberalisiert. Es gibt klare Regeln und festgelegte Orte, wo Hüllenlosigkeit ausdrücklich erlaubt ist, nämlich in der Sauna, am FKK-Strand oder in den eigenen vier Wänden. Außerhalb dieser Bereiche ist Nacktheit ein Tabu und kann sogar als sittenwidrig bestraft werden, denn immer ist dieser Begriff auch eng mit Sexualität verknüpft.

Aus diesem sozialen Konsens heraus entwickeln sich schließlich Schamregeln, die Eltern dann an ihren Nachwuchs weitergeben. "Kinder wollen", erläutert Schuhrke, "eigentlich von sich aus Regeln lernen. Meist vermitteln die Eltern diese 'Regeln' bezüglich Nacktheit nonverbal, leben sie vor. Man muss also die Kinder meist gar nicht zurechtweisen und ihnen sagen‚ 'du darfst hier nicht nackt herumlaufen' oder sie sogar mit Worten beschämen. Fragt man verschiedene Eltern, wann sie bei ihren Kindern zum ersten Mal Körperscham bemerkt haben, so erinnern sie sich an Situationen spätestens um den Beginn der Schulzeit."

In der Familie mit Nacktheit unbefangen umgehen

Im Umgang mit Scham ist es auch wichtig, dass Eltern versuchen, das Nacktsein und die Nacktheit nicht grundsätzlich mit dem Stempel "unnormal" und "unanständig" zu versehen. Je unbefangener in der Familie mit dem Thema umgegangen wird, desto natürlicher wird auch das Verhältnis, das ein Kind zu seinem eigenen Körper entwickelt. Der sexuelle Grundgedanke, der für Erwachsene mit der Nacktheit verbunden ist, ist Kindern nämlich zunächst fremd. Sie nehmen zumindest zuhause den hüllenlosen Zustand als etwas Selbstverständliches wahr, wenn es auch die Eltern tun. Früh genug erkennen dann die Kinder meist von allein durch ihr soziales Umfeld wie etwa auch durch andere Kinder in Schule oder Kindergarten, dass es bestimmte Schamgrenzen gibt: Sie lernen so zu differenzieren und begreifen, dass man in der Öffentlichkeit nicht nackt herumläuft, dies aber zuhause völlig in Ordnung sein kann.

Individuelle Schamgrenzen des Kindes respektieren

Obwohl Schamerziehung bestimmten Normen und Regeln folgt, entwickeln Kinder phasenweise auch eine sehr individuelle Empfindlichkeit bezüglich Nacktheit, reagieren wesentlich schamhafter, als ihre Eltern das von ihnen erwarten oder als andere Kinder desselben Alters. Das kann etwa beim Arztbesuch sein, wenn sich das Kind plötzlich nicht mehr ausziehen will. Bei solchen Situationen sollten Eltern immer die Befindlichkeiten ihres Kindes respektieren und nie mit Maßregelung reagieren. Sätze wie "jetzt stell dich nicht so an" würden das Gefühl der Bloßstellung beim Kind nur verstärken und ihm zugleich vermitteln, dass seine Eltern sein Verhalten ablehnen. Eine weitere Verunsicherung könnte die Folge sein.

In der Pubertät werden Kinder verschämter

Eine ganz besondere Sensibilität im Umgang mit Nacktheit entwickelt sich auch während der Pubertät. In dieser Zeit sind Teenager sehr verunsichert und gehen weniger selbstverständlich mit ihrer Blöße um, als dies jüngere Kinder häufig noch tun: "Diese Entwicklungsphase ist mit einer starken Bewusstwerdung verbunden. Und das bezieht sich auch auf den Körper, der sich gerade im Wandel befindet", erläutert Bettina Schuhrke. "Das wird als befremdlich empfunden, so dass die Jugendlichen gehemmter sind und nicht mehr wissen, wie sie auf andere wirken und ob sie attraktiv sind. Das steigert das Körper-Schamgefühl erheblich. "

Dies sollten Eltern berücksichtigen und während der Pubertät die speziellen Empfindungen ihres Kindes besonders respektieren. Das bedeutet zugleich, dem Teenie-Nachwuchs Raum für seine Privatsphäre einzuräumen und falls nötig auch in den eigenen vier Wänden etwas zurückhaltender mit der eigenen Nacktheit vor dem Kind umzugehen, wenn es sich dabei beschämt und unwohl fühlt.

Schamgefühl: Fluch oder Segen?

Auf den ersten Blick erscheinen schamhafte Emotionen, gleichgültig welchen Ursprungs sie sind, zunächst als unangenehm. Denn wer kennt nicht den Wunsch, in den Erdboden zu versinken, wenn Schamgefühle samt verräterischer Gesichtsröte in einem aufsteigen. Kein Kraut ist dann gegen eine solche Reaktion gewachsen und gerne würden die meisten auf diese Empfindung verzichten. Doch Scham hat auch etwas Gutes, sie ist ein sinnvolles Regulativ. Denn der Wunsch sich einerseits verbergen zu wollen und andererseits die bittere Erfahrung zu machen, sich eine Blöße zu geben, geht einher mit der Erkenntnis der eigenen Schwäche und Fehlerhaftigkeit.

"Scham ist ein schmerzhaftes Gefühl, weil es mit einer Selbstbewertung verbunden ist", kommentiert Expertin Schuhrke, "'Ich empfinde, dass ich in diesem Moment schlecht bin und möchte am liebsten aus dem Blickfeld der anderen verschwinden'. Trotzdem kann man die Scham positiv sehen, weil sie dazu führt, dass Menschen lernen, Regelüberschreitungen wahrzunehmen. Daraus folgt, dass man sich in ähnlichen Situation später angemessen verhält und damit negative Gefühle vermeidet."

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Diese Lektion hat auch die fünfjährige Pia gelernt. Nachdem sie im Sommer im Schwimmbad einmal von Gleichaltrigen gehänselt wurde, weil sie wie "ein Baby" ohne Bikini herumlief, achtet sie jetzt schamhaft darauf, keine Blöße mehr zu zeigen und zieht sich stets unter dem Frottee-Cape ihrer Mama um, geschützt vor fremden Blicken.

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