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ADHS oder doch nur lebhaft?


Der Verdacht kommt oft zu schnell auf
Wo ist die Grenze zwischen Lebhaftigkeit und ADHS?

t-online, Simone Blaß

Aktualisiert am 01.10.2018Lesedauer: 4 Min.
ADHS wird bei Kindern vorschnell diagnostiziert, meistens sind sie nur lebhaft.Vergrößern des BildesADHS wird bei Kindern vorschnell diagnostiziert, meistens sind sie nur lebhaft. (Quelle: KatarzynaBialasiewicz/Thinkstock by Getty-Images-bilder)

Früher war sicher nicht alles besser. Aber Kindsein war noch vor wenigen Jahrzehnten deutlich einfacher. Für viele Kinder ist der Tag heute komplett verplant, Dauerbeobachtung inklusive. Da kann es schnell mal passieren, dass ein eigentlich nur lebhaftes Kind von den Erwachsenen leichtfertig einen Stempel aufgedrückt bekommt: hyperaktiv.

Kinder mit dem Aufmerksamkeitsdefizithyperaktivitätssyndrom haben Schwierigkeiten, still sitzen zu bleiben, wollen in Bewegung sein. Sie sind impulsiv, unorganisiert, haben Stimmungsschwankungen, lassen sich leicht ablenken, brüten ständig neue Ideen aus – so kann man es in zahlreichen Fachbüchern nachlesen.

Hat Ihr Kind möglicherweise ADHS? Dieser Test gibt Aufschluss.

Aber wenn man genau hinsieht, dann trifft diese Beschreibung auf viele Kinder und vor allem auf einen Großteil aller Jungs im Grundschulalter zu. Sie haben unglaublich viel Energie, halten den Mund nur, wenn sie schlafen, und geben selbst beim vermeintlich ruhigen Spiel dauernd irgendwelche Töne von sich – sie sind von Natur aus nicht dafür gemacht, stundenlang stillzusitzen. Aber genau das wird tagtäglich von ihnen verlangt.

"Früher waren das einfach schwierige Jungs"

Jeder kennt die Figur des Michels aus Lönneberga. Der es immer gut meint und mit seiner Spontaneität trotzdem dauernd für Chaos sorgt. Geschaffen von Astrid Lindgren, die auch schon der kleinen Pippi Langstrumpf Leben eingehaucht hat. Einem Mädchen, das sich so gar nicht anpassen will und das statt in die Schule zu gehen lieber seine äußerst waghalsigen Ideen auslebt.

Aber das sind nicht die einzigen Figuren in der Kinderbuchliteratur, die – zumindest oberflächlich betrachtet – Anzeichen von ADHS zeigen: Der Klassiker ist der ewig kippelnde Zappelphilipp, dessen Erfinder, ein Arzt, aus dem Schatz seiner Erfahrungen plauderte. Man denke aber auch an Peter Pan oder den kleinen personalisierten Kater Findus, der wie ein Hüpfball durch das Leben des alten Pettersson rauscht genau wie der Kobold Pumuckl, der energiegeladen seinen Meister Eder auf Trab hält.

Wo ist sie also, die Grenze zwischen einem lebhaften Kind, das seine ursprünglichen Instinkte auslebt und einem, das wirklich unter einer Aufmerksamkeitsstörung leidet? "ADHS ist keine Krankheit, sondern ein Spektrum mit fließenden Übergängen", erklärt Birgit Boekhoff. Sie ist ADHS-Coach in Hannover und macht klar: "Es herrscht die Tendenz, mit einem Defizitblick auf Kinder zu sehen. Früher waren das einfach schwierige Jungs, heute winkt man viel zu schnell mit einem ADHS-Verdacht."

ADHS wirkt umweltbedingt wie eine Epidemie

Alles außerhalb des Normbereichs ist für die Medizin eine Störung. Aber nicht immer muss sich eine solche Besonderheit negativ auswirken. Kinder, die sich im Rahmen des ADHS-Spektrums bewegen, sind anstrengend, nervig, fordernd, schusslig und chaotisch. Aber sie sind auch empathisch und hilfsbereit, sie sind begeisterungsfähig und phantasievoll, spontan, außerdem sehr einfühlsam und fürsorglich.

Trotzdem gibt es natürlich Kinder, die im wahrsten Sinne des Wortes unter ADHS leiden. Und nicht nur sie leiden, auch ihr Umfeld. Gegeben hat es das schon immer, zahlreiche Fälle sind schon vor sehr langer Zeit in der medizinischen Fachliteratur beschrieben worden.

Heute geht man davon aus, dass es sich, vereinfacht gesagt, um ein vererbbares Ungleichgewicht an Botenstoffen im Frontalhirn handelt, das durch ungünstige Umweltfaktoren noch verstärkt werden kann. "Ein solches Kind bringt die Veranlagung mit. Inwieweit sich die Schwächen, aber eben auch die Stärken ausbilden, das hängt vom Umfeld ab. Jedes Kind braucht eine wohlwollende, unterstützende und gut strukturierte Umwelt, um sich gut entwickeln zu können. Kinder mit ADHS brauchen das umso mehr."

Kinder sollen funktionieren

Besonders lebhafte Kinder ecken immer wieder an. Hören die gleichen Sätze, die ihnen vermitteln, dass sie anstrengend sind, dass ihre Spontaneität nervt, dass sie zuhören und sitzenbleiben sollen – und lernen daraus, dass sie so, wie sie sind, nicht "richtig" sind. Wenn dann noch der Verdacht aufkommt, sie seien hyperaktiv, dann kann das ein Stigma sein, das sie so schnell nicht mehr loswerden. Umso wichtiger ist es, zu vermeiden, dass Schubladen geöffnet werden, die hinterher überquellen – weil lebhaften Jungs ein Stempel verpasst wird, der nicht zu ihnen gehört. "Das ist ein Problem unserer Gesellschaft. Kinder, die nicht funktionieren, sollen zum Arzt, zur Therapie."

Die Diagnose sollte immer nur von Fachärzten gestellt werden, von Kinder- und Jugendpsychiatern, die darauf spezialisiert sind. Sie sollte nicht gestellt werden von Eltern, Lehrern, Erziehern, Verwandten und auch nicht vom Haus- oder Kinderarzt.

Mit dem Kind beschäftigen: Zuwendung lohnt sich

Birgit Boekhoff sieht das Problem aber auch bei den Eltern. "Da kommen Eltern, die möchten, dass ihr Kind den Übertritt ins Gymnasium schafft und die dem Arzt etwas von einem anstrengenden, hyperaktiven Kind erzählen, – und noch immer bekommen sie dann zum Teil auch ohne weitere Tests Medikamente. Das nenne ich Kindesmissbrauch. Wir haben in unserer Gesellschaft keine Geduld und keine Zeit mehr, keine Energieressourcen, um auch mal etwas auszuhalten, was anstrengend und schwierig ist."

Es fehlt an der Muße, sich mit einem Kind zu beschäftigen statt es zu beschäftigen, an der Geduld, ein Verhalten zu trainieren. Interessant ist in diesem Zusammenhang, wie die Bezugspersonen rund um Michel, Findus und Pumuckl mit dem Thema umgehen. Sei es nun der Knecht Alfred, Meister Eder oder der alte Pettersson: Sie bleiben ruhig, klar, sprechen ehrlich über Gefühle, setzen Grenzen und bleiben alles in allem einfach gelassen und dem anderen zugewandt. Sie geben ihren Schützlingen das Gefühl: So, wie du bist, so bist du richtig.

Und genau das ist es, was alle Kinder brauchen und die anstrengenden ganz besonders – egal, ob sie hyperaktiv oder nur besonders aktiv sind. Denn das Wissen, dass man wertvoll und angenommen ist, gibt Selbstwertgefühl und lenkt Energien in die richtigen Bahnen.

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