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Intersexualität: Zwillingsbruder Wyatt wird zu Nicole


Intersexualität
Die Wandlung eines Zwillings: Aus Wyatt wird Nicole

Sie sehen aus wie Jungen, aber sie sind Mädchen im falschen Körper. Oder umgekehrt. Filme wie "The Danish Girl" holen Transgender-Menschen aus der Tabuzone. Die Pulitzer-Preisträgerin Amy Ellis Nutt hat die Wandlung eines Zwillings dokumentiert. Und eine Familie schildert, was es bedeutet, dass ihr Sohn Avery sich als Mädchen fühlt.

22.02.2016|Lesedauer: 4 Min.
dpa, Andrea Barthélémy
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Für ihr Sachbuch "Becoming Nicole" (Zu Nicole werden) begleitete die Wissenschaftsreporterin Amy Ellis Nutt über mehrere Jahre die amerikanische Familie Maines. 1997 adoptierte das Ehepaar die eineiigen Zwillingsjungen Wyatt und Jonas. Doch anders als Jonas kann Wyatt Piraten und "Star-Wars"-Figuren wenig abgewinnen. Ein Foto zeigt den stolzen Vierjährigen mit seiner Barbie-Sammlung, er malt Selbstporträts als Mädchen und sieht seinen Penis als störendes Körperteil an.

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Familie Maines adoptierte 1997 ein eineiiges Zwillingspärchen: Wyatt und Jonas. Doch Wyatt fühlte sich schon früh als Mädchen. Seit einer Geschlechtsangleichung lebt sie als Nicole. (Quelle: Eric Payne/Wayne Maines/dpa)

"Am Anfang war ich total aufgebracht. Das war nicht einfach für mich", erinnert sich der Vater. Mutter Kelly stellt sich schon im Kindergarten hinter ihren Sohn, der sich als Mädchen fühlt und von den Eltern anderer Kinder zunehmend ausgegrenzt wird. Die Familie muss wegen der Anfeindungen – vor allem von strenggläubigen Christen – schließlich Schulen wechseln und sogar umziehen.

Vater hadert lange mit der Trans-Identität seines Kindes

Ihr Ehemann braucht fast zehn Jahre, bis er akzeptiert, dass einer seiner Söhne in Wirklichkeit eine Tochter ist, später Nicole genannt. "Es gab dafür keinen speziellen Moment, es summierte sich", erzählt Maines: "Wenn man sieht, wie sein Kind anfängt, sich selbst zu verletzen. Und wenn man sieht, wie glücklich es ist, wenn es ein Kleid anziehen darf." Maines, der öffentliches Aufsehen eigentlich scheut, wurde zum Kämpfer für die Rechte seines Kindes. 2014 erreichte er mit einem wichtigen Musterprozess, dass Kinder wie Nicole die ihrem inneren Geschlecht entsprechende Schultoilette benutzen dürfen.

Heute ist Nicole volljährig, geht zum College und hat jenen letzten Schritt vollzogen: Die Operation zur Geschlechtsanpassung, die erst mit 18 Jahren erlaubt ist. Diesen Schritt hat die achtjährige Avery - wenn sie es denn möchte - noch vor sich.

Avery wusste schon mit vier: "In mir drin bin ich ein Mädchen"

Avery ist drei Jahre alt, als er anfängt, sich sehnlichst ein Prinzessinnenkleid zu wünschen. Seine Eltern staunen, zögern, aber kaufen es ihm schließlich. "Eine Phase", denkt seine Mutter Debi Jackson. Ein Irrtum. Avery ist vier Jahre alt, als er seine Mutter bei einem Einkaufsbummel zur Seite nimmt: "Mama, weißt Du eigentlich, dass ich ein Mädchen bin? In mir drin bin ich ein Mädchen." Debi Jackson erinnert sich in einer auf Youtube verbreiteten Rede, wie ihr Atem stockte: "Mein Sohn sagte nicht: Ich möchte ein Mädchen sein! Er sagte: Ich bin ein Mädchen."

Von Freunden und Verwandten ausgegrenzt

Das ist der Moment, der für die Jacksons – bis dahin eine konservative Vorzeigefamilie aus Kansas City mit zwei kleinen Söhnen und festem Wertekanon – alles verändert. "Ich wusste am Anfang ja noch nicht einmal, was Transgender überhaupt heißt", erinnert sich Debi Jackson.

Heute ist Avery acht Jahre alt und lebt als Mädchen. Ihre Eltern konsultierten Kinderärzte, Endokrinologen und Psychologen und zogen sich mit ihr schließlich ein Jahr lang zurück, um den Übergang für alle leichter zu machen. Als sie in die Nachbarschaft zurückkehrten, hatte Avery ihre ersehnten langen Haare, jedoch kaum noch Freunde. Auch Freunde der Eltern, sogar Familienmitglieder, zogen sich zurück.

Avery ist eines von zahlreichen Transgender-Kindern, deren Leben noch weit von Normalität und Selbstverständlichkeit entfernt ist - obwohl die Rechte für lesbische, schwule, bisexuelle und Trans-Menschen in den USA weiter ausgebaut werden. Die Betroffenen wagen sich mehr und mehr an die Öffentlichkeit, finden sich in Selbsthilfegruppen und verbinden sich über soziale Netzwerke.

Geschlechtsumwandlung ist ein langer Weg

Transgender-Kinder müssen meist einen jahrelangen medizinisch-therapeutischer Prozess durchlaufen. Den Anfang macht die Diagnose einer Gender Dysphorie (Unglücklichsein über das angeborene Geschlecht), die nach Kriterien der Psychiatrischen Fachgesellschaft der USA "nachdrücklich, durchgängig und lange anhaltend" empfunden werden muss.

Dann wird zumeist die äußere Lebensweise verändert, schließlich das Einsetzen der Pubertät durch Hormonblocker verzögert. Nächster Schritt ist die Gabe von Sexualhormonen des erstrebten Geschlechts - junge Trans-Männer bekommen durch Testosteron kantigere Gesichtszüge und männliche Körperbehaarung. Östrogen lässt bei jungen Trans-Frauen Gesichtszüge und Körperformen weicher werden.

Ärzte vermuten Veränderung beim Embryo

Wie aber kommt es zu dem Phänomen? Und warum können sich sogar eineiige Zwillinge mit identischem genetischen Bausatz unterschiedlichen Geschlechtern zugehörig fühlen? Die Anlage und Entwicklung der Geschlechtsorgane findet beim Embryo zu einem deutlich früheren Zeitpunkt statt als die Ausbildung der Gehirnareale, die für die Geschlechtsidentität wichtig sind.

Äußere Einwirkungen wie Stresshormone oder Chemikalien könnten in diesen fragilen Phasen jedoch die Synchronisierung von innerem und äußerem Geschlecht beeinflussen, vermuten Ärzte. Möglich sei dabei letztlich auch, dass ein Embryo durch seine Lage in der Gebärmutter mit Hormonen anders versorgt werde als sein Zwilling, beschreibt Amy Ellis Nutt.

Wissenschaftler vermuten, dass die Entwicklung einer Transgenderidentität verschiedene Ursachen hat - und die scharfe Abgrenzung zwischen Mann und Frau wahrscheinlich mehr Grautöne aufweist als oft angenommen.

Nein, sie sind nicht schwul oder lesbisch

Diese Vielfalt, die auch Menschen umfasst, die sich gar keinem Geschlecht zugehörig fühlen, verunsichert in den USA vor allem Konservative. Familien wie die von Avery und Nicole bekommen das zu spüren: Ihre Kinder seien in Wirklichkeit einfach schwul oder lesbisch, lauten Kommentare im Internet. Oder: "Da wollte Mami wohl ein kleines Mädchen...".

Daneben werden Betroffene und Experten nicht müde zu betonen: "Transgender hat mit sexueller Orientierung nichts zu tun." Bei letzterer gehe es darum, mit wem man ins Bett geht. Bei ersterem darum, wer man selbst ist.

Viele Trans-Teenager sind suizidgefährdet

Im vergangenen Jahr öffnete die "New York Times" (NYT) einen Blog-Raum für Geschichten von Trans-Menschen. Bis heute haben dort etwa 350 Betroffene aus ihrem Leben erzählt, anonym oder namentlich, mit Bild oder ohne. Viele berichten von Selbstmordversuchen. Die hohe Rate von mehr als 50 Prozent unter Trans-Teenagern ist ein Grund, warum eine frühere äußerliche Anpassung an das innere Geschlecht mittlerweile von mehr Fachleuten unterstützt wird.

"Lieber eine fröhliche Tochter als einen toten Sohn"

Angst vor der hohen Zahl suizidgefährdeter Teenager trieb auch Averys Vater Tom Jackson um, als er darüber las. "Meine Frau und ich entschieden, dass wir lieber eine fröhliche, gesunde Tochter haben würden als einen toten Sohn."

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