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Behinderte Eltern: Wenn geistig Behinderte ihre Kinder großziehen


Begleitete Elternschaft
Wenn geistig Behinderte ihre gesunden Kinder großziehen

Sich Nachwuchs zu wünschen und eine Familie zu gründen, wird von der Gesellschaft in aller Regel mit Freude und Wohlwollen aufgenommen. Nicht so, wenn geistig behinderte Paare Kinder bekommen. Sie stoßen oft auf Skepsis und Befremden. Doch warum eigentlich? Auch Menschen mit Behinderungen können gute Eltern sein, brauchen dabei im Alltag allerdings pädagogische Unterstützung. "Begleitete Elternschaft" nennt sich dieses Hilfskonzept, das unter anderem von der Initiative "Lebenshilfe" im schwäbischen Aalen im Rahmen eines vorbildlichen Wohnprojekts umgesetzt wird.

06.05.2014|Lesedauer: 4 Min.
t-online, Nicola Wilbrand-Donzelli
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Es erscheint auf den ersten Blick wie eine große Wohngemeinschaft, in der die Ehepaare P. und I. mit ihren Kindern in einem Mehrfamilienhaus in Aalen leben. Doch beide Elternpaare sind geistig behindert und brauchen jeden Tag rund um die Uhr die Hilfe von pädagogischen Fachkräften oder Sozialarbeitern, die sie bei der Erziehung ihrer gesunden Kinder unterstützen. Nur so ist es möglich, dass die behinderten Väter und Mütter überhaupt mit ihrem Nachwuchs zusammenleben und für ihn sorgen dürfen.

Auch Behinderte haben das Recht auf eigene Kinder. Vom Staat werden sie bei der Erziehung unterstützt.Vergrößern des Bildes
Auch Behinderte haben das Recht auf eigene Kinder. Vom Staat werden sie bei der Erziehung unterstützt. (Quelle: Thinkstock by Getty-Images-bilder)

Gewisse Alltagskompetenzen sind nötig

"Die Eltern, die wir im Rahmen unseres Projekts begleiten, haben meist eine leichte bis mittelschwere geistige Behinderung, so dass sie gewisse Alltagskompetenzen entwickelt haben und in der Lage sind, etwa den Haushalt zu führen oder gemeinsame Freizeitaktivitäten zu gestalten. Das sind Grundvoraussetzungen, um das Zusammenleben mit Kindern einigermaßen zu bewerkstelligen", erklärt Dagmar Starz. Die Sozialmanagerin und Heilerziehungspflegerin leitet den 2008 gegründeten Bereich "Wohnen" der "Lebenshilfe Aalen/Ostalb". Dazu gehören mittlerweile sechs Häuser mit jeweils drei bis vier Familien, um die sich pro Gemeinschaft im Schichtdienst ein Team von etwa 15 Mitarbeitern kümmert.

Recht auf sexuelle Selbstbestimmung und eigene Kinder

Gut zweitausend Kinder geistig Behinderter leben in Deutschland. Tendenz steigend. Ihr Leben ist ein Balanceakt: Ihre Eltern sind zwar hirngeschädigt oder in der geistigen Entwicklung zurückgeblieben - die Kinder selbst haben aber eigentlich eine gute Chance sich normal zu entfalten und zu entwickeln. Das hat höchste Priorität bei den verantwortlichen Betreuern, denn im Vordergrund stehen immer das körperliche, geistige und seelische Wohl der Kinder.

Aber auch die Rechte behinderter Väter und Mütter werden durch die "begleitete Elternschaft" gewahrt. Ihnen ist nämlich im Artikel 3 des Grundgesetzes zugesichert, dass niemand wegen seiner Behinderung diskriminiert werden darf. Und die UN-Behindertenrechtskonvention, die auch in Deutschland geltendes Recht ist, unterstreicht den Anspruch körperlich und geistig behinderter Menschen auf sexuelle Selbstbestimmung sowie auf eigene Kinder.

Offiziell haben die Eltern das Sorgerecht

Obwohl die Eltern innerhalb des Wohnprojekts der "Lebenshilfe Aalen/Ostalb", das in Süddeutschland bislang einzigartig ist und Leuchtturmcharakter hat, fast nie allein mit ihren Kindern sind und unabhängig über das Familienleben und die Erziehung bestimmen können, haben sie dennoch offiziell das Sorgerecht - ein wichtiger Anspruch, der den geistig behinderten Vätern und Müttern ein Stück mehr Normalität und Selbstvertrauen vermittelt, so die Erfahrung von Starz: "Auf diese Weise wird die Elternkompetenz enorm gestärkt. Die Väter und Mütter sind deshalb sehr stolz, übernehmen mit viel Enthusiasmus Verantwortung für ihre Kinder und entwickeln eine äußerst starke emotionale Bindung zu ihnen. Das zeichnet sie aus."

Die Betreuer machen ein gemeinsames Familienleben erst möglich

Doch nicht immer herrscht eitel Sonnenschein in den ungewöhnlichen Wohngemeinschaften, wo sich die Väter und Mütter auch gegenseitig stützen und austauschen. Manchmal fühlen sich die Eltern nämlich von ihren Betreuern bevormundet und überwacht und zeigen sich dementsprechend bockig. Projektleiterin Starz erzählt: "Dann müssen wir immer wieder geduldige und beruhigende Gespräche führen. Die Eltern sehen meist ziemlich schnell ein, dass das gemeinsame Leben mit ihren Kindern nur mit unserer Unterstützung funktionieren kann. Denn gäbe es die begleitete Elternschaft nicht, könnten sie ihren Nachwuchs nicht großziehen. Die Kinder würden dann wahrscheinlich bei Pflegefamilien aufwachsen."

"Die Eltern müssen immer die wichtigsten Bezugspersonen bleiben"

Damit die Bindung zwischen den Eltern und ihren Sprösslingen trotz der ständigen Präsenz anderer Personen innig und konstant bleibt, bemühen sich die Betreuer des Wohnprojekts, eine gewisse Distanz zu den Familien zu halten. "Bei den Kindern", so Starz, " spielen wir grundsätzlich im Gegensatz zu anderen Betreuungsformen in der Behindertenhilfe nicht die erste Geige. Wir wollen bewusst im zweiten Glied stehen, denn die Eltern sollen immer die wichtigsten Bezugspersonen für ihren Nachwuchs bleiben. Damit sind wir bisher sehr gut gefahren. Das zeigt sich vor allem, wenn es den Kindern schlecht geht, sie krank sind oder getröstet werden müssen. In solchen Momenten zählen nämlich nur Mama und Papa."

Schulisches wird ausgelagert

Eine besondere Phase beginnt, wenn die Kinder schulpflichtig werden und irgendwann ihren Vätern und Müttern intellektuell überlegen sind. Manche leiden darunter, dass sie von ihrem Sohn oder ihrer Tochter überholt werden, berichtet die Aalener Heilerziehungspflegerin. "Um solche Befindlichkeiten erst gar nicht aufkeimen zu lassen, schauen wir, dass das Thema Schule und Lernen so weit wie möglich aus dem gemeinsamen Alltag ausgelagert wird - die Kinder möglichst auf Ganztagsschulen gehen und auch extern bei den Hausaufgaben geholfen bekommen. Das entschärft das Konfliktpotenzial."

Konsequente Erziehung fällt den Eltern schwer

Besonders intensiv müssen die behinderten Eltern bei erzieherischen Fragen an die Hand genommen werden. Wenn es um Regeln, feste Strukturen, Konsequenzen oder Disziplin gehe, mangele es den Vätern und Müttern oftmals an Durchhaltevermögen, kommentiert die Projektleiterin. Für diese Eltern sei es besonders schwer, einen roten Faden im Auge zu behalten. Sie überblickten häufig nicht, dass erzieherische Maßnahmen nur langfristig wirken können und knickten zu schnell ein beziehungsweise schössen über das Ziel hinaus. "Dann greifen wir aber nicht immer sofort ein, sondern lassen die Väter und Mütter nach der Learning-by-Doing-Methode auch mal selbst machen. Das gilt aber nur für Situationen, in denen das Kindeswohl nicht gefährdet ist."

Die bedingungslose Liebe der Eltern stärkt auch ihre Kinder

Was aber passiert, wenn die Kinder ins Teenageralter kommen und sich möglicherweise für ihre Eltern schämen und sich distanzieren? Bisher sei so etwas zum Glück noch nicht vorgefallen, erklärt Starz, denn das älteste im Wohnprojekt betreute Kind sei erst zwölf. "Die Eltern-Kind-Beziehungen sind eigentlich in allen Familien gut und auch Hänseleien unserer Kinder etwa durch Klassenkameraden haben wir noch nicht erlebt. Ich kann mir gut vorstellen, dass das auch so bleibt. Denn die bedingungslose Liebe dieser besonderen Eltern, die meist völlig in sich selbst ruhen, ist eine unschlagbare Gabe, die auch ihre Kinder spüren und so zu selbstbewussten Menschen heranwachsen können, die zu ihrer Familie stehen."

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