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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Verlegt, vergessen, verloren Wenn Kinder schusselig sind
Mal geht der Turnbeutel verloren, mal das Mäppchen oder sogar die Lieblingsjacke. Viele Eltern wissen ein Lied davon zu singen, wenn ihr Kind dauernd etwas verschludert. Der permanente Kampf gegen die "Schwundquote" strapaziert vor allem die Nerven von Vätern und Müttern. Was hinter der Schusseligkeit und Vergesslichkeit steckt, erklärt ein Experte.
"Du hast ein Gedächtnis wie ein Emmentaler Käse – überall sind Löcher", beschwert sich Martha über ihre siebenjährige Tochter, weil diese mal wieder etwas verbummelt hat. Dieses Mal sind es die nagelneuen Turnschuhe, die entweder noch irgendwo im Umkleideraum der Sporthalle liegen oder inzwischen einen neuen Besitzer gefunden haben. Lustig findet die junge Mutter die Verlustraten mittlerweile nicht mehr. Denn ihr vergesslicher Sprössling vermisst mindestens einmal in der Woche einen mehr oder weniger wichtigen Gegenstand, der manchmal auch gar nicht mehr auftaucht – trotz aller Recherche und Suchbemühungen der gesamten Familie.
Schusseligkeit und Vergesslichkeit sind bei Kindern normal
Dass es solche "Schusselkinder" offenbar ziemlich oft gibt, belegen zahlreiche Berichte von verärgerten und ratlosen Eltern in einschlägigen Chats. So erzählt Luisa, dass auch ihr elfjähriger Sohn ständig etwas verliert und dass sich leider daran gar nichts ändert – im Gegenteil: "Vor allem seit er die weiterführende Schule besucht", schreibt sie, "ist seine Zerstreutheit und Unachtsamkeit besonders schlimm. Das nimmt jetzt Maße an, die meiner Meinung nach nicht mehr tragbar sind. Entweder ist es die Brotbox, ein Schulbuch oder die Trinkflasche. Das ist die stolze Bilanz von nur einer Woche."
Bei Grundschülern sei diese Schusseligkeit völlig normal, sagt Dana Urban von der Bundeskonferenz für Erziehungsberatung. "Vor allem beim Wechsel von der Kita zur Schule tritt das auf." Auf die Kinder stürme hier viel auf einmal ein. Sie müssen sich viel merken, sind durch ihre Mitschüler schneller abgelenkt – da bleiben schon mal Dinge nach Schulschluss liegen. Eltern rät Urban in dieser Phase zur Gelassenheit. "Ein Kind schafft das mit Eintritt in die Schule nicht automatisch."
Trotzdem sei das alles halb so wild, sagt Diplompsychologe Andreas Engel gegenüber der Elternredaktion von t-online.de: "Grundsätzlich kommt Schusseligkeit und Vergesslichkeit bei Kindern genauso wie bei Erwachsenen vor. Das sind individuelle Eigenschaften wie etwa die Körpergröße, die beim einen mehr und beim anderen weniger ausgeprägt sind und für das ganze Leben typisch bleiben können."
Kindern lassen sich schnell ablenken
Trotzdem wird gerade während der Kindheit der Kampf gegen die "Schwundquote" besonders intensiv geführt. Kinder im Kindergartenalter haben noch kein Bewusstsein dafür, dass Dinge, die sie irgendwo stehen oder liegen lassen, auf Nimmerwiedersehen verschwinden können. Sie müssen erst lernen, sich selbst zu organisieren und auf ihre Sachen zu achten. "Je jünger Kinder sind", erklärt Engel, "desto schneller wechselt ihre Aufmerksamkeit. Dabei treten die Dinge, die ihnen unwichtig erscheinen, oftmals in den Hintergrund. Der Fokus ist dann dort, wofür sich das Kind gerade am meisten interessiert." Verstärkt würde diese Eigenschaft auch dadurch, dass Kinder sich viel schneller als Erwachsene ablenken ließen und ständig offen für neue Reize seien. Ihre Prioritäten könnten so von einem Moment auf den anderen wechseln.
Ungeliebte Gegenstände gehen öfter verloren
Dass Kinder häufig ausgerechnet Gegenstände verschludern, die zum Beispiel mit der Schule oder anderen nicht besonders beliebten Verpflichtungen zu tun haben, sei nicht zufällig, ergänzt Engel: "Manchmal ist die Vergesslichkeit der Menschen besonders groß bei Dingen, die als unangenehm empfunden werden. So verdrängen auch Kinder gerne unpopuläre Themen wie etwa die Schule und alles was damit zu tun hat. Dieses Verhalten läuft aber unbewusst ab."
Kinder müssen mit den Folgen ihrer Vergesslichkeit konfrontiert werden
Dennoch kann kindlicher Schludrigkeit mit bestimmten Maßnahmen entgegengewirkt werden. Strafen würden dabei allerdings überhaupt nicht helfen. Sie hätten noch nie einen Menschen besser gemacht, sagt Engel. Doch könne man ruhig die Kinder mit den Folgen ihrer Vergesslichkeit konfrontieren und ihnen vermitteln dass sie auch verantwortlich für ihr Tun sind. So sollten Kinder zum Beispiel immer mit gehen, wenn etwa beim Hausmeister der Sporthalle oder der Schule oder im Fundbüro nach verlorenen Objekten gefahndet wird. Die Erfahrung‚ dass das Suchen oft mit einem großen Aufwand verbunden ist, ist in vielen Fällen eine sehr heilsame Methode. Sie kann dazu führen, dass das Kind "beim nächsten Mal" seine Sinne besser beisammen hat und nichts verliert.
Wichtig ist aber auch, dass Eltern gute Vorbilder sind, denn Kinder lernen gerade durch Nachahmung. Deshalb sollten Mütter und Väter sich selbstkritisch fragen: Wie sieht es denn mit meiner Ordnungsliebe aus? Hat jedes Ding auch seinen Platz? Räume auch ich immer auf? Außerdem sollten Eltern ihren Kindern vermitteln, dass Materielles einen bestimmten Wert hat und es nicht selbstverständlich ist, Verlorenes immer gleich durch einen Neukauf zu ersetzten - auch wenn man es sich leisten könnte.
Kleine Hilfsmittel wirken Schludrigkeit entgegen
Damit Kinder schon von vornherein gewappnet sind, können Mütter und Väter bereits im Vorfeld einiges unternehmen. Nützlich sind hier zunächst Hilfsmittel wie etwa "To-do-Zettel", die auch für Erwachsene eine bewährte Gedächtnisstütze darstellen. Aber auch konsequent eingehaltene Rituale helfen, wie der stets am Abend fertig gepackte Schulranzen, in den die Monatskarte, der Geldbeutel oder der Hausschlüssel immer im selben Fach deponiert werden. So spielt sich zuverlässig eine gewisse Routine in bestimmten Abläufen ein, die Kinder dabei unterstützt, ihre sieben Sachen beisammen zu halten. Erfahrungsgemäß helfen dabei auch immer gute Verschlüsse und Knöpfe an den Taschen von Jacken, Hosen oder Ranzen. So wird verhindert, dass Gegenstände unbemerkt rausfallen können und verloren gehen.
Sollte trotzdem mal etwas irgendwo liegen bleiben, ist es von Vorteil, wenn ein ehrlicher Finder das Fundstück gleich zuordnen kann. Deshalb sollten Eltern gerade bei jüngeren Kindern Namensschilder in der Bekleidung anbringen oder elektronische Begleiter wie etwa Handys oder MP3-Player mit Adressklebern und Festnetznummer beschriften.
Ohne Vergesslichkeit wäre das Gehirn überlastet
Helfen alle Strategien nichts, und die Verluste häufen sich, sollten Eltern sich fragen, ob ihr Kind zu viel zu tun hat: Ist es mit Schule, Hobbys und anderen Freizeitaktivitäten überfordert? Hat mein Kind eventuell eine Konzentrationsschwäche? Hier kann der Kinderarzt weiterhelfen.
Grundsätzlich empfiehlt Diplom-Psychologe Andreas Engel allen geplagten und genervten Eltern, möglichst gelassen auf ihre vergesslichen Sprösslinge zu reagieren: " Vergesslichkeit ist eigentlich eine sinnvolle Eigenschaft. Kinder lernen so mit der Zeit, Wichtiges und Unwichtiges voneinander zu unterscheiden - nur dass ihre Prioritäten noch ganz andere sind, als die der Erwachsenen. Müssten wir uns alles merken und das zentrale Nervensystem würde alles ohne Filter abspeichern, wäre es hoffnungslos überlastet. Das wäre fürchterlich."