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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Das passiert im Körper Langes Schreien wirkt bei Babys wie Gift
Nicht wenige Eltern sind überzeugt, dass es Babys nicht schadet, wenn man sie mal eine Weile schreien lässt. Doch das kann der kindlichen Entwicklung schaden. Eine Expertin erklärt, was schreiende Babys empfinden und was dabei in ihrem Körper passiert.
Mütter und Väter wollen das Beste für ihre Kinder. Aber sie wollen sie auch nicht verzärteln. Deshalb war "kontrolliertes Schreienlassen" eine durchaus akzeptierte Praxis. Sie wird auch in dem umstrittenen Bestseller "Jedes Kind kann schlafen lernen" von Annette Kast-Zahn und Hartmut Morgenroth vertreten.
Der Ratgeber basiert auf einer Methode des US-amerikanischen Neurologen und Kinderarztes Richard Ferber aus den 80er Jahren. Sie gilt als überholt. Ferber selbst hat später darauf hingewiesen, dass seine Methode nur als "Notfallprogramm" für verzweifelte Eltern gedacht sei und auf den Aspekt "Babys schreien lassen" verkürzt worden sei.
Preußische Erziehungsideale wirken nach
Dass die womöglich zu oberflächlich interpretierten Thesen von Ferber hierzulande auf fruchtbaren Boden gefallen sind, erklärt Diplom-Psychologin Fabienne Becker-Stoll vom Staatsinstitut für Frühpädagogik in Bayern auch mit den kulturhistorischen Wurzeln: Über ein Jahrhundert prägten preußische Tugenden wie Disziplin das deutscher Erziehungsideal. Darauf basierte auch das zur Nazi-Zeit von der Lungenfachärztin Johanna Haarer verfasste Buch "Die deutsche Mutter und ihr erstes Kind". Sie riet ausdrücklich dazu, Neugeborene lange weinen zu lassen. Das sollte die Lungen stärken und die Kinder sollten ohne Verweichlichung früh lernen, alleine einzuschlafen.
"Das Schlimme ist", kommentiert Becker-Stoll, "dass dieses Buch bis in die späten achtziger Jahre unter leicht veränderten Titel weiter verlegt wurde. Es wurde von Kommunen sogar an frischgebackene Eltern verteilt und als Standard-Lehrbuch in der Kinderkrankenpflege, von Hebammen und Kinderärzten genutzt. Noch heute gibt es Mediziner, die davon ausgehen, dass es nicht schädlich ist, Babys und Kleinkinder eine Zeit lang weinen zu lassen."
Baby-Geschrei dient der Arterhaltung
Das Gegenteil ist der Fall: Ein Säugling, der schreit und nicht unmittelbar von seinen Bezugspersonen beruhigt wird, ist enormem Stress ausgesetzt. Denn wird sein Schreien nicht schnell erhört, löst das große Angst bei ihm aus.
"Das Alarm- und Emotionszentrum im Gehirn, das Limbische System, wo neben den liebevollen Emotionen auch elementare Empfindungen wie Schmerz, Hunger und Angst verarbeitet werden, ist bei Babys schon voll funktionsfähig. Und es wird sehr leicht ausgelöst", sagt die Diplom-Psychologin. "Würden hilflose Babys nicht sofort lautstark weinen, um auf ihre Not beziehungsweise Bedürfnisse aufmerksam zu machen, wäre die Menschheit wahrscheinlich bereits ausgestorben."
Babys können sich nicht selbst beruhigen
Schlecht ist verzweifeltes Weinen auch deshalb, weil Säuglinge sich noch nicht selbst beruhigen können. Bei ihnen fehlen noch wichtige Nervenverknüpfungen im Gehirn, die das Limbische System und die Großhirnrinde verbinden, wo das Sprachzentrum aber auch vernünftiges und planerisches Denken angesiedelt ist. "Die Fähigkeit, seine Gefühle zu steuern, entwickelt ein Kind erst langsam in den ersten fünf, sechs oder sieben Jahren", weiß die Expertin und ergänzt: "Das kann ausschließlich in der emotional bedeutsamsten Beziehung zu seinen Eltern geschehen, von denen es existentiell abhängig ist."
Die beruhigende Wirkung des Kuschel-Hormons
Physiologisch wird der seelische Ausnahmezustand eines weinenden Babys von Stresshormonen ausgelöst. Dann wird das noch unreife Gehirn von Adrenalin und Cortison überschwemmt. Dieser biochemische Prozess lässt sich nur stoppen, wenn Mama oder Papa ihren aufgeregten Sprössling mit zärtlicher Zuwendung trösten. "Durch intensiven Körperkontakt wird das Kuschel-Hormon Oxytocin freigesetzt", erklärt Becker-Stoll. "Dieser Glücksstoff ist das einzige Gegenmittel zu den mächtigen Stresshormonen." Es bewirkt, dass das Kind zur Ruhe kommt und sich wieder geborgen fühlt.
Stress kann langfristig krank machen
Ohne tröstenden Körperkontakt wird auch kein Oxytocin ausgeschüttet. Adrenalin und Cortison werden weiter produziert, der Stresslevel bleibt hoch und kann nicht abgebaut werden.
"Diese Vorgänge sind Gift für das kindliche Gehirn. So können neurologische Vernetzungen, die für unsere Stressverarbeitung im weiteren Leben wichtig sind, nicht aufgebaut werden. Das wiederum führt dazu, dass Kinder, die schon früh mit ihren Ängsten allein gelassen werden, eine viel größere Wahrscheinlichkeit haben, später schwere Depressionen oder Angststörungen zu entwickeln. Sie können auch körperlich krank werden, weil Stress das Immunsystem schwächt."
Außerdem sind Kinder, die am Anfang ihres Lebens von ihren Eltern nicht aufgefangen werden, später oft selbst nicht zu tiefer Zuwendung und Empathie fähig.
Getröstete Babys sind später emotional stabiler
Entgegen der Behauptung von Richard Ferber hat das Schreienlassen keinen pädagogischen Wert. Eine amerikanische Studie belegt, dass verzweifelte Babys, die immer sofort von ihren Müttern getröstet wurden, nach einem Jahr nur noch weinten, wenn sie sich erschreckt oder weh getan hatten. Kinder, auf deren Geschrei die Mütter erst nach einer Weile reagierten, blieben unruhiger und weinten auch nach zwölf Monaten noch wesentlich häufiger.
Signale des Babys lesen lernen
Wie reagieren Eltern am besten, wenn ihr Baby schreit? Sie müssen Feingefühl für dessen Signale entwickeln, damit sie schon beim ersten kleine Muckser wissen, was ihm fehlt. Das geht natürlich nur, wenn das Kind möglichst immer - auch nachts - im Blickfeld der Eltern ist.
Deshalb rät die Diplom-Psychologin jungen Eltern, sich in der ersten Zeit nach der Geburt so viel wie möglich von Freunden oder Verwandten helfen zu lassen. Denn nur mit einer Entlastung im Alltag habe man die Muße, sich voll und ganz auf das Baby und seine Bedürfnisse zu konzentrieren.