"Es geht um ein Leben" Ein mangelhaftes Gutachten entriss Petra ihren Sohn
Stehen getrennte Eltern wegen eines Sorgerechtsstreits vor Gericht, sollte es vor allem um eines gehen: das Wohl ihrer Kinder. Umso schlimmer, dass in diesen Auseinandersetzungen oft familienpsychologische Gutachten ausschlaggebend sind, die erhebliche Mängel aufweisen. Das deckten Mitarbeiter der Fernuniversität Hagen in einer Studie auf. Der WDR-Film "Wenn Gerichtsgutachten Familien zerstören" dokumentiert das Problem mit dramatischen Fällen.
2010 ließen sich in Deutschland die Eltern von 145.146 Kindern scheiden, dazu kommen die Trennungen nichtehelicher Lebensgemeinschaften, die statistisch nicht erfasst werden. Bei heftigen Streitigkeiten über Sorge- oder Umgangsrecht werden Psychologen als Sachverständige hinzugezogen. Sie erarbeiten dann Empfehlungen für die Richter.
Subjektivität und Routine statt wissenschaftlicher Kriterien
Allerdings weisen viele der familienrechtspsychologischen Gutachten, die unter anderem die Erziehungsfähigkeit von Eltern beurteilen, schwerwiegende Qualitätsmängel auf, wie Christel Salewski und Stefan Stürmer in ihrer Untersuchung zu psychologischen Gutachten für das Familiengericht feststellten. Die beiden Psychologen analysierten 116 familienrechtspsychologische Gutachten aus den Jahren 2010 und 2011 aus dem Bezirk des Oberlandesgerichts Hamm.
Das Ergebnis der Studie ist ernüchternd: In 56 Prozent der Gutachten fehlen fachpsychologische Arbeitshypothesen, in 85,5 Prozent der Fälle werden die eingesetzten Verfahren gar nicht dargelegt und bei 35 Prozent der Arbeiten wurden Verfahren eingesetzt, die in der Wissenschaft als problematisch gelten.
"Er hat geschrien und sich an mich geklammert"
Wie sich derartige Mängel konkret auswirken können, zeigt die Doku "Wenn Gerichtsgutachten Familien zerstören", die am Montagabend im WDR ausgestrahlt wurde. Ein solcher Fall ist die Geschichte von Petra Stein* (52): Petra fühlt sich durch ihren Ehemann bedroht und äußert das gegenüber der Polizei. Nachdem keine Maßnahmen etwas an der Situation ändern können, rät ein Polizist Petra, die Kinder zu nehmen und "zu gehen". Nach einiger Zeit folgt sie dem Rat und zieht mit ihrer erwachsenen Tochter und dem damals dreijährigen Paul 500 Kilometer weiter weg in den Norden - eine Entscheidung, die ihr zum Verhängnis wird.
Der Sorgerechtsstreit um Paul beginnt und eine beauftragte Gutachterin plädiert schließlich für die "Einrichtung des Lebensmittelpunktes im väterlichen Haushalt". Im Gutachten wird vor allem die Sicht des Vaters wiedergegeben. Petra wird negativ ausgelegt, dass sie unabgesprochen mit den Kindern geflohen sei. Dass dies tatsächlich nach langer Überlegung und in Absprache mit Verwandten geschah, wird ignoriert - genauso wie die Sicht des Kindes.
Paul, inzwischen vier Jahre alt, kommt gegen seinen Willen zu seinem Vater. Seine Mutter und der Rest der Familie dürfen ihn nur noch sporadisch beim Jugendamt besuchen. Danach kommt es immer wieder zu Herz zerreißenden Szenen. Einmal habe eine Trennung vier Stunden gedauert, schildert Pauls Schwester: "Paul hat Sachen aus dem Auto geschmissen, sich an mich geklammert und geschrien, er will nicht zurück, er möchte bei uns bleiben und er hat Angst."
Nach weiteren zähen Gerichtsverhandlungen wird dem Willen des Kindes doch noch genüge getan. Das Gutachten wird für unwirksam erklärt und Paul kann zurück zu seiner Mutter. Rückblickend mahnt Petra, dass Eltern in so einer Situation versuchen müssen, "die Paarebene zu verlassen" und zum Wohle des Kindes "lernen müssen, nur noch Eltern zu sein". Pauls Schwester ergänzt: "Es geht um ein Leben."
Gabriel (43): als Sexualtäter stigmatisiert
Genauso erschütternd ist der in der WDR-Doku dargestellte Fall von Gabriel Engel (43), der nach der Trennung von seiner Frau um das Umgangsrecht für seine Tochter Anna kämpft: Im ersten Gerichtsverfahren lässt seine Frau die Bombe platzen und äußert den Verdacht, dass der Hobbyfotograf Anna in anzüglichen Posen fotografiert habe. Obwohl die polizeilichen Ermittlungen das nicht belegen können und sich der Verdacht als falsch erweist, wird Gabriel das Pädophilen-Stigma nicht mehr los, wie das beauftragte Gutachten in dem Familienstreit offenbart: Von Gabriel gehe eine große Gefahr aus, er sei ein potenzieller Sexualtäter und solle sich in forensische Psychotherapie begeben.
Wie konnte es zu diesem Ergebnis kommen? Gabriel liest sich in Fachliteratur ein und wird schließlich fündig: Für das Gutachten wurde ein Test mit ihm durchgeführt, bei dem Fragen zu seinen sexuellen Neigungen gestellt wurden. Diese beantwortete Gabriel damals alle guten Gewissens so, dass eigentlich kein Verdacht auf ihn hätte fallen dürfen - und genau das war aus Sicht der Gutachterin entscheidend.
Die Gutachterin hatte ein Verfahren verwandt, das eigentlich für nachgewiesene Sexualtäter konzipiert wurde. Verneinen die bei einem solchen Test sämtliches Interesse an potenziellen Opfern, gehen Experten davon aus, dass sie lügen. Im Fall von nicht als Sexualtäter bekannten Menschen wie Gabriel ist der Test hingegen vollkommen nutzlos.
"Das Schreckliche war, dass das Gutachten einen unglaublich hohen Stellenwert hatte. Es wurde alles darin geglaubt", klagt der Vater bis heute. Inzwischen wurde das Gutachten für ungültig erklärt und Gabriel darf seine Tochter wieder regelmäßig sehen.
Die falschen Experten
"Der Gutachter muss die gerichtliche Fragestellung in 'Psychologische Fragen' übersetzen und dann geeignete diagnostische Verfahren auswählen, um diese Fragen beantworten zu können", erklärt Salewski auf der Internetseite der Hagener Universität, wie es eigentlich sein sollte. Doch warum gelingt dies in so vielen Fällen nicht?
Weil die Gutachten von den falschen Personen erstellt werden, erläutert ihr Kollege Stefan Stürmer im WDR-Interview. Die meisten Gutachten dieser Art werden von Diplom- oder Master-of-Science-Psychologen erarbeitet. Jedoch bereite Stürmer zufolge das Diplomstudium Psychologie nur eingeschränkt auf rechtspsychologische Tätigkeiten vor: "Deshalb sagen die psychologischen Fachverbände einhellig, dass gerichtspsychologische Gutachten nur von Fachpsychologen für Rechtspsychologie durchgeführt werden sollten." Doch viele Sachverständige seien wirtschaftlich darauf angewiesen, von Gerichten beauftragt zu werden.
Strengere Gesetze gefordert
Damit Fälle, wie sie im WDR-Film gezeigt wurden, zukünftig nicht mehr vorkommen, braucht es stärkere gesetzliche Regelungen, so Stürmer: "Die Qualifikation für Sachverständige muss gesetzlich spezifiziert und Qualitätsstandards für psychologische Gutachten müssen definiert werden."
Zudem fordert Stürmer - ähnlich wie bei Psychotherapeuten und Ärzten - eine Kammerpflicht, die Fortbildungen und Qualitätskontrollen sicherstellt. "Momentan gibt es diese Verpflichtung nicht", sagt Stürmer.
*Sämtliche Namen wurden im WDR-Film geändert.