Bildung Das Schulmodell der Zukunft? Berliner Schule macht vor, wie es geht
"Stell dir vor es ist Schule und jeder geht gerne hin!" Für viele Schüler klingen solche Worte eher wie ein unerfüllbarer Wunschtraum, denn in vielen Klassenzimmern bremsen heute Leistungsdruck, zu große Klassen, gestresste Lehrer oder Frontalunterricht nach "Schema F" die Lust am Lernen. Dass dies nicht so sein muss, zeigt die Evangelische Gemeinschaftsschule Berlin Zentrum, die vom siebten Schuljahr zum Abitur führt. Die Privatschule finanziert sich durch Gebühren, die von den Eltern bezahlt werden. Schulleiterin Margret Rasfeld erklärt, wie Schule auch anders funktionieren kann und warum es Zeit für eine neue Lernkultur ist.
"Sie lernt nur, um gute Noten zu bekommen"
In Internet-Foren, in denen sich Eltern über die Schulerfahrungen ihrer Kinder austauschen, stößt man sehr oft auf Unverständnis. Immer werden dabei die gleichen Defizite unseres Schulsystems kritisiert: zu starr, zu wenig individuell und unfähig Freude am Lernen zu entfachen, weil eher Fächer und nicht Schüler unterrichtet würden. So schreibt eine Mutter: "Wenn meine Tochter (siebte Klasse, Gymnasium) für die Schule übt, versucht sie das auswendig zu lernen, was der Lehrer vorgegeben hat. Sie ist dabei oft am Verzweifeln - hat eigentlich nur wenig verstanden. Sie lernt nur, um eine gute Note zu bekommen. Denn daran wird ja in unserer Gesellschaft gemessen, wie schlau ein Kind ist und wie weit es später mal kommt."
Ein Vater ergänzt: "Viele Rohdiamanten werden in unserem System nicht so ausgearbeitet, dass sie ihren ganzen Glanz entfalten können. Wir lassen junge Menschen so einfach durch ein schulisches Raster fallen. Das ist schade." Und eine andere Mutter klagt: "Die Friss-oder-stirb-Lernmethoden sind leider vor allem an Gymnasien weit verbreitet. Anstatt den natürlichen Wissensdurst und die individuellen Stärken zu fördern, sind unsere Kinder demotiviert und in ihrem Antrieb gelähmt."
Veränderung der Lernkultur durch eine Bewegung von unten
Dessen ist sich auch Margret Rasfeld bewusst. Die renommierte Pädagogin und Direktorin der Evangelischen Gemeinschaftsschule Berlin Zentrum ist deshalb Mitbegründerin der Initiative "Schule im Aufbruch", in der sich auch der profilierte Hirnforscher und Schulkritiker Gerald Hüther engagiert. "Damit sich Schule wirklich verändert", erläutert Margret Rasfeld, "braucht es inklusive Strukturen und eine Bewegung von unten, in der sich Eltern, Schüler, Lehrer und Schulleitung zusammenfinden, um Schule neu zu gestalten und zwar so, wie es dem 21. Jahrhundert entspricht."
Lernen in heterogenen Gruppen
Dies bedeute, so die Pädagogin, dass alle Kinder, hochbegabte ebenso wie Kinder mit Handicap oder Förderbedarf zusammen in einer Gemeinschaft unterrichtet würden, wie es an ihrer Berliner Gemeinschaftsschule der Fall ist: "Je mehr die Kinder in heterogenen Gruppen lernen, desto mehr Potenzial ist da", sagt Rasfeld weiter. "Das war ja bisher leider nicht Thema des deutschen Schulsystems. Hier herrscht durch die Mehrgliedrigkeit und Aufteilung der Schüler auf verschiedene Schultypen nach wie vor eine knallharte Selektionskultur vor, wo Wissensvermittlung und Defizitorientierung im Mittelpunkt stehen. Und das ist seit dem 19. Jahrhundert so."
Nachhaltiges Lernen durch Wertschätzung, Anerkennung und Lob
Bei der Initiative "Schule im Aufbruch" geht es deshalb nicht darum das Bestehende zu reparieren oder zu verbessern, sondern einen grundlegenden Wandel im Denken, einen neuen Geist zu etablieren und ein anderes Schulklima zu schaffen: "Wir brauchen inklusive Schulen und in der Schule eine Beziehungskultur, eine Kultur gegenseitiger Wertschätzung, Anerkennung, Zuwendung und Lob. Das ist die Grundlage für erfolgreiches nachhaltiges Lernen", weiß die Pädagogin. Bisher seien Schulen leider zu oft Beziehungsverhinderungsanstalten, in denen die Lehrer alle 45 Minuten in ein anderes Klassenzimmer hetzen müssten, über hundert Schüler täglich unterrichteten und nach dem Pisa-Schock vor allem Wissen abfragten. Dies sei Gift für erfolgreiches Lernen, so die Direktorin.
Jeder in seinem Tempo: individuelles Lernen im "Lernbüro"
Wie Schule, die nicht nach den alten Mustern gestrickt ist, im Alltag funktioniert, kann man an der 2007 gegründeten Gemeinschaftsschule in Berlin erleben. Der Unterricht für die relevanten Fächer Deutsch, Englisch, Mathe und Gesellschaftslehre, der sich an den geltenden Lehrplänen orientiert, findet in jahrgangsübergreifenden "Lernbüros" statt. Hier stehen den Schülern aus verschiedenen Altersstufen von den Lehrern im Baukastenprinzip vorbereitete umfangreiche Lernmaterialien zur Verfügung, deren Inhalte sich jeder im Rahmen eines Jahresplans in seinem eigenen Tempo selbst aneignet. "Dieses individualisierte Lernen führt dazu", erklärt Rasfeld, "dass Schüler keine Lernobjekte mehr sind, sondern selbst zum Mittelpunkt ihres Lernens und Handelns werden. So können sie entsprechend ihrer Fähigkeiten arbeiten und sind wesentlich motivierter."
Vom "du sollst" zum "du kannst"
Aufgrund dieses Konzepts ist es auch möglich, dass Kinder die nach zwei Wochen Krankheit wieder zurückkehren, dort mit dem Lernen weiter machen können, wo sie aufgehört haben und so keinen Stoff verpassen. Genauso haben die Schüler bei Prüfungen die Zügel in der Hand. Sie melden sich erst dann zu einem Test an, wenn sie sich sicher sind, dass sie den Stoff beherrschen. "Durch dieses selbstregulierte Arbeiten", kommentiert Pädagogin Rasfeld, "wird bei den Schülern Angst abgebaut und sie lernen sich außerdem besser einzuschätzen. Die Lernkultur wandelt sich so vom 'du sollst' zum 'ich kann'".
Schüler helfen Schülern
Doch was passiert, wenn die Schüler mal nicht weiter wissen? Dann stehen die Lehrer, die sich sonst eher im Hintergrund halten, wie ein Coach beratend zu Seite und helfen weiter. Sehr oft unterstützen sich aber auch die Schüler eines Lernbüro-Teams gegenseitig. "Das funktioniert besonders gut, denn Kinder lernen eben von anderen Kindern viel lieber und sie erklären oft auch besser", erzählt die Schulleiterin." So verstünden die Schüler nicht nur den Stoff besser, sondern gleichzeitig würden auch die sozialen Kompetenzen gefördert. Die Schüler lernten auf diese Weise, sich ohne Konkurrenzdenken helfen zu lassen.
Der Lehrer ist beratender Coach und Mentor
Lehrer sind an der Berliner Schule als "Lehrende" auch unverzichtbare Vertrauenspersonen. Jeder Pädagoge betreut als Tutor 13 Schüler. Dabei hat er nicht nur ein offenes Ohr für die schulischen Angelegenheiten, die jeden Freitag bei einem persönlichen Gespräch mit Hilfe des "Logbuches", in das jeder Schüler alles notiert, was mit seinem Lernen zu tun hat, beredet werden. "Die Schüler können auch alles andere ihrem Mentor anvertrauen", berichtet Margret Rasfeld, "zum Beispiel familiäre Probleme oder Liebeskummer - denn nur, wem es gut geht, der kann auch gut lernen."
An der Gemeinschaftsschule stehen neben dem fachbezogenen Lernbüro auch fachübergreifende Projektarbeit im Team auf dem Lehrplan, sowie die Möglichkeit beispielsweise als "Sprachbotschafter" an Schulen in sozialen Brennpunkten aktiv zu werden und dort andere Kinder als gern gesehener Lern-Freund auf Augenhöhe nicht nur in sprachlicher Hinsicht zu unterstützen.
Unterrichtsfächer "Verantwortung" und "Herausforderung"
Einmalig sind jedoch die Fächer "Verantwortung" und "Herausforderung", die Margret Rasfeld und ihr Kollegium eingeführt haben. "Verantwortung" lernen die Kinder in der siebten und achten Klasse, wenn sie sich zweimal wöchentlich nachmittags in gemeinnützigen Einrichtungen etwa in Kindergärten oder Seniorenresidenzen engagieren. Und die "Herausforderung" wartet schließlich alljährlich in der achten, neunten und zehnten Klasse auf die Jugendlichen. Dann begeben sie sich nach halbjähriger Vorbereitungszeit nach eigenem Wunsch allein oder in der Gruppe für drei Wochen mit jeweils nur 150 Euro in der Tasche auf eine Expedition ins Unbekannte, begleitet von einem über 18-jährigen als Coach im Hintergrund.
Letztes Jahr, erzählt die Schulleiterin, hatte es sich eine dreiköpfige Gruppe zur Aufgabe gemacht, von Berlin nach Hamburg zu laufen, und fünf Mädchen schafften es sogar, auf verschlungenen Wegen bis zur französischen Atlantikküste zu gelangen. "Bei solchen Unternehmungen lernen die Schüler unendlich viel", berichtet Margret Rasfeld. "Sie lernen im Team zu agieren, Konflikte zu lösen, mit Risiken, Ängsten und Frustration umzugehen und wachsen durch ihre Erfahrungen schließlich über sich selbst hinaus."
Immer mehr Schulen interessieren sich für die neue Lernkultur
Mittlerweile macht das pädagogische Konzept, für das sich Pädagogin Rasfeld und ihre Mitstreiter einsetzen, nach und nach auch anderswo Schule. Gerade tourte die Direktorin mit einigen ihrer Schüler sowie dem Neurobiologen Gerald Hüther durch zahlreiche Städte der Republik und warb bei der Roadshow "Schule im Aufbruch" für die Lernkultur der Zukunft.
Auch reisen immer mehr Lehrerkollegien aus verschiedenen Bundesländern nach Berlin, um sich vor Ort ein Bild zu machen, wie Unterricht auch anders gestaltet werden kann. Besonders die Idee des "Lernbüros" kommt bei Pädagogen gut an und wird nun häufiger übernommen. "Das alles könnte aber noch besser anlaufen", sagt Margret Rasfeld, "wenn die in der Vorbereitung sehr aufwändigen jahrgangsübergreifende Lernmaterialien im Baukastensystem zentral zur Verfügung stünden, so dass man jederzeit bundesweit darauf zurückgreifen könnte. Das wäre eine einmalige aber sehr nützliche Investition, die vieles erleichtern würde."