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Zum journalistischen Leitbild von t-online.IPCC drängt zur Eile "Jetzt oder nie": Die letzte Stunde der Klimarettung bricht an
Der neue Bericht des Weltklimarates liest sich wie die Akte eines Intensivpatienten: Die Lage ist bitter, aber nicht hoffnungslos. Rettende Eingriffe sind machbar. Sofern alle mitziehen.
Wie lässt sich die Blutung stillen? Was steigert die Überlebenschancen? In der Wissenschaft geht es längst zu wie in der Notaufnahme. Auf der Trage: das Klima. Der jüngste Bericht des Weltklimarats (IPCC) fasst nun zusammen, wie die Menschheit den völligen Kollaps des Erdklimas noch verhindern kann. Fest steht: Es ist möglich, aber schwierig.
Nach rund acht Jahren Wartezeit stellen die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler des UN-Gremiums jetzt vor, was im Medizinschrank an bekannten und neuen Mitteln bereitsteht. Welche Maßnahmen mehr und welche weniger erfolgversprechend sind – vom Absaugen der Treibhausgase aus der Luft über das Energiesparen zu Hause.
t-online fasst die Zukunftsprognose des neuen IPCC-Berichts zusammen und stellt einige der wichtigsten Maßnahmen vor, die aus Sicht der Wissenschaftler unvermeidbar sind.
Ist das Klima noch zu retten?
Es ist nicht zu spät, um einen Klimakollaps zu verhindern. Darin sind sich die Wissenschaftler des IPCC einig. Sogar das Ziel aus dem Pariser Klimaabkommen lässt sich demnach weiterhin erreichen: Die globale Erderwärmung kann noch bei 1,5 Grad beziehungsweise spätestens bei 2 Grad gestoppt werden. Jedoch: Nie zuvor war das "Aber" so groß wie jetzt.
"Wenn wir die globale Erwärmung auf 1,5 Grad Celsius begrenzen wollen, heißt es jetzt oder nie", sagt Jim Skea, der als Leitautor und Koordinator am jüngsten Weltklimabericht mitgewirkt hat. Denn trotz langjähriger Mahnungen des Klimarats steigen die weltweiten Treibhausgasemissionen immer noch weiter.
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Der pandemiebedingte Rückgang der Emissionen war nur 2020 spürbar und schon 2021 wettgemacht: Allein die CO2-Emissionen schossen vergangenes Jahr auf einen historischen Höchststand. Immerhin: Der Zuwachs verlangsamt sich. Zwischen 2010 und 2019 nahmen die Emissionen von Jahr zu Jahr deutlich langsamer zu als im Jahrzehnt davor.
Doch egal ob die Erwärmung bei 1,5 oder bei 2 Grad aufgehalten werden soll, laut Klimarat dürfen die weltweiten Treibhausgasemissionen spätestens 2024 nur noch in eine Richtung gehen: nach unten.
Die Analyse des IPCC zeigt aber auch: Trotz massiver Einschnitte wird zumindest die Temperaturschwelle von +1,5 Grad wohl für einige Jahrzehnte überschritten, bevor die Atmosphäre sich wieder abkühlt. Zu viele klimaschädliche Gase haben sich dort bereits angesammelt.
Knapp eineinhalb Jahre bleiben somit, um den Trend umzukehren. Bis 2030 müsste der Treibhausgasausstoß dann für eine maximale Erwärmung um 43 Prozent reduziert sein, für einen Stopp bei plus 2 Grad um 25 Prozent. Spätestens 2050 kommt die Stunde der Wahrheit.
Ist die Welt bis dahin nicht klimaneutral – stößt also noch immer mehr Treibhausgase aus, als wieder gebunden werden können –, wird die globale Erderwärmung nicht bei 1,5 Grad zu halten sein. Sollte das Ziel auch Anfang der 2070er nicht erreicht sein, droht die Klimakrise laut dem IPCC völlig außer Kontrolle zu geraten.
Die Erhitzung der Atmosphäre dürfte dann die 2-Grad-Marke überschreiten. Ab diesem Punkt steigt die Gefahr von tödlichen Extremwettern weltweit, einige Gebiete der Erde könnten unbewohnbar werden. Damit es nicht dazu kommt, müssen nach Einschätzung des Klimarates alle ran – Politik, Wirtschaft und Verbraucher.
Wie können die Emissionen sinken?
Angesichts des engen Zeitfensters plädiert der Weltklimarat für einen sofortigen Rundumschlag. "Ohne sofortige und tiefgreifende Emissionssenkungen in allen Sektoren wird das 1,5-Grad-Ziel unmöglich sein", so IPCC-Leitautor Skea.
Da die Berichte des Weltklimarates keine neuen Forschungserkenntnisse vorstellen, sondern bestehende Ergebnisse zusammenfassen, sind die meisten Methoden für die Klimarettung kaum überraschend. Die Experten betonen, wie wichtig es sei, fossile Brennstoffe wie Gas, Öl und Kohle durch klimafreundliche Energiequellen wie grünen Wasserstoff, Windkraft und Fotovoltaik zu ersetzen.
Das gilt einerseits für Sektoren, in denen der Umstieg einfacher ist, beispielsweise im Verkehr und bei Gebäuden, andererseits für die Industrie, wo viele energieintensive Produktionsprozesse den Wechsel erschweren. Neu ist unter anderem der Fokus des IPCC auf energie- und emissionssparendes Verhalten in Unternehmen, aber auch im Alltag.
Mit Blick auf die Industrie geht es dem Weltklimarat dabei unter anderem um den effizienteren Umgang mit Materialien: Produktionsstoffe sollen möglichst wiederverwendet oder recycelt und Abfälle am besten vermieden werden. Auf der Ebene der Verbraucher könnten etwa gute Gebäudedämmung, pflanzliche Ernährung, der Wechsel vom Auto aufs Fahrrad und öffentliche Verkehrsmittel sowie der Verzicht aufs Vielfliegen die globalen CO2-Emissionen bis 2050 um 40 bis 70 Prozent verringern.
Hinzu kommt, dass eine sinkende Nachfrage beim Energieverbrauch Dominoeffekte auslöst, so der IPCC-Bericht: "Schnelle und tiefgreifende Veränderungen bei der Nachfrage machen es für jeden Sektor leichter, Treibhausgasemissionen kurz- und mittelfristig zu reduzieren", heißt es dort. Doch unabhängig davon, wie stark Wirtschaft und Bevölkerung Emissionen reduzieren und Energie sparen – auch das optimistischste Szenario reicht noch nicht, um die Klimaziele zu erreichen.
Lösen soll dieses Problem ein Tandem aus natürlichen Ökosystemen und überdimensionierten CO2-Staubsaugern: Der Klimarat setzt auf CO2-Senker wie Moore und Wälder, die Kohlendioxid auf natürliche Weise absorbieren, und empfiehlt den Bau von Industrieanlagen, die das Kohlendioxid aus der Luft abscheiden und langfristig speichern können.
Bis zum Jahr 2050 sollen auf diese Weise mehrere Milliarden Tonnen CO2 eingefangen werden. Das dürfte schon deshalb nötig sein, weil Wirtschaftszweige wie Luftfahrt, Schifffahrt und die Zementherstellung wohl auch in drei Jahrzehnten noch nicht klimaneutral sein werden.
"Wir haben die Werkzeuge und das Know-how, die nötig sind, um die globale Erderwärmung einzudämmen", fasste der Vorsitzende des Weltklimarates Hoesung Lee bei der Vorstellung des Berichts am Montagabend zusammen. Und verwies im selben Atemzug darauf, dass Wissen und Technik allein noch nichts bewegen könnten – man müsse auch wollen. "Wir stehen am Scheideweg", so Lee.
Grund zur Sorge?
Es ist bereits der sechste Bericht des Weltklimarats, mit dem sich zahlreiche Wissenschaftler an die Regierungen der Erde wenden. In dem sie warnen, mahnen und Ratschläge geben, ohne sich politisch einzumischen. Zu Hunderten haben sie daran gearbeitet; belastbare Erkenntnisse aus Tausenden Studien zusammengetragen.
Und sie haben das Ergebnis in eine übersichtliche Kurzversion gegossen – die Lösung der Klimakrise auf rund 60 Seiten. Mundgerecht, um damit auch wirklich Politikerinnen und Politiker zu erreichen. Denn noch immer klaffen Worte und Taten beim Klimaschutz überall auseinander: Kein einziges Land hat bisher einen Plan für Emissionssenkungen vorgelegt, der ausreicht, um die globale Erwärmung bei 2 Grad, geschweige denn bei 1,5 Grad zu stoppen.
Versprochen hatten es im Pariser Klimaabkommen vor rund sieben Jahren dennoch fast alle. UN-Generalsekretär António Guterres nannte den Bericht ein "Dokument der Schande", das all jene leeren Schwüre aufliste, "die uns auf dem Weg in eine unbewohnbare Welt festgefahren haben".
Aktuell geht die Erwärmung der Erdatmosphäre bis zum Jahr 2100 gegen mindestens 2,7 Grad. Kommt es tatsächlich dazu, werden tödliche Extremwetter wie Hitzewellen oder Starkregen in einem Maß zunehmen, das für viele kaum vorstellbar ist. Der Meeresspiegel würde deutlich steigen, die Artenvielfalt abnehmen, weil zahlreiche Tiere und Pflanzen sich an die neuen Bedingungen nicht anpassen können und sterben. Ganze Landstriche dürften unbewohnbar werden.
Je weiter die Erwärmung unter 2 Grad bleibt, desto besser fällt die Prognose aus. "Die Entscheidungen, die wir jetzt treffen, können uns eine lebenswerte Zukunft sichern", betont IPCC-Chef Lee. Umgekehrt erschwert jede Verzögerung beim Reduzieren der Emissionen den Schutz des Klimas.
Je länger Regierungen intern und international über klimapolitische Fortschritte streiten, desto höher steigt die CO2-Konzentration in der Atmosphäre – und mit ihr die Temperatur. Doch es gibt auch etwas Anlass zur Hoffnung.
Oder Hoffnung auf den letzten Drücker?
Seit dem Bericht des IPCC von 2014 hat sich in Sachen Klimaschutz mehr getan als je zuvor. Inzwischen steht mit dem 1,5-Grad-Versprechen aus dem Pariser Klimaabkommen nicht nur ein internationales Ziel, sondern auch eine gemeinsame Messlatte für die Bemühungen der einzelnen Länder.
In den vergangenen drei Jahren haben 136 Staaten versprochen, klimaneutral zu werden; darunter auch Indien und die USA, einige der größten Emittenten. Zwar liegen die selbst gewählten Fristen teils in fernster Zukunft oder sind nur vage bestimmt, aber jedes Zugeständnis ist ein kleiner Schritt vorwärts.
Schneller als bei den nationalen Zielen zur Treibhausneutralität geht es mit den erneuerbaren Energien voran. Die Branche legt viel schneller zu als noch vor zehn Jahren erwartet. Weltweit stammt durchschnittlich ein Zehntel des Stroms allein aus Wind- und Solarenergie.
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Die Preise hierfür sind seit 2010 um bis zu 85 Prozent gesunken und auch die Speichermöglichkeiten für Ökostrom werden zunehmend besser und günstiger. Nimmt man Atom- und Wasserkraft hinzu, liegt der Anteil klimaneutraler Elektrizität global schon bei 37 Prozent.
Statt von der bisherigen Trödelei enttäuscht, zeigt sich der Klimaratsvorsitzende Hoesung Lee angesichts dieser Fortschritte bestärkt. "Es ermutigt mich, dass so viele Länder nun Klimaschutzmaßnahmen ergreifen", so Lee. Viele Vorschriften und Wirtschaftsinstrumente hätten sich bereits als wirksam erwiesen – nun müsse man diese ausweiten und ambitionierter machen.
Ob er davon überzeugt ist, dass der neue IPCC-Bericht es endlich schafft, die Entscheidungsträger zum Anpacken zu bewegen, ließ er offen. Der G7-Gipfel, der im Juni in Bayern stattfindet, und die UN-Klimakonferenz in Ägypten im Herbst sind zwei Termine, bei denen die Regierungen der Welt zeigen können, wie ernst sie die Wissenschaftler nehmen.
- IPCC (2022): "Climate Change 2022 – Mitigation of Climate Change, Summary for Policy Makers"
- Pressemitteilung des IPCC (2022): "The evidence is clear: the time for action is now. We can halve emissions by 2030"
- Pressemitteilung der Internationalen Energieagentur (2022): "Global CO2 emissions rebounded to their highest level in history 2021"
- Nature (2019): “Committed emissions from existing energy infrastructure jeopardize 1.5° climate target”
- Umweltbundesamt (2021): “Atmosphärische Treibhausgas-Konzentrationen”
- UN-Umweltprogramm (2020): “Emissions Gap Report 2020“
- The Guardian (04.04.2022): "World on 'fast track to climate disaster', says UN secretary general"
- Mit Material der Nachrichtenagentur AFP