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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Verschwendung von Lebensmitteln Hunderttausende Schweine werden für den Abfall geschlachtet
Supermärkte dürfen auch abgelaufene Produkte verkaufen. Trotzdem landen schrumpelige Paprika und alte Joghurts oft in den Müllcontainern der Läden. An anderer Stelle werden jedoch noch mehr Lebensmittel vernichtet.
Kiloweise Karotten und Orangen, Butterkekse, Eier, abgepackte Nudeln oder Smoothies: Längst nicht alle genießbaren Lebensmittel, deren Mindesthaltbarkeitsdatum abgelaufen ist, gehen an gemeinnützige Organisationen wie die Tafel. Viele landen in den Abfalltonnen der Supermärkte. An jeder anderen Stelle in der Lebensmittelkette wird allerdings noch mehr Essen entsorgt.
"Der Teil der verschwendeten Lebensmittel im Groß- und Einzelhandel ist verschwindend gering", sagt Thomas Schmidt vom Thünen-Institut für Ländliche Räume. Auch wenn das Problem für Verbraucherinnen und Verbraucher beim Einkaufen besonders sichtbar ist, fallen in Deutschland gerade einmal vier Prozent aller Lebensmittelabfälle im Handel an.
Der Rest entsteht, bevor Produkte in die Regale kommen und nachdem sie gekauft wurden. Verantwortlich dafür sind vor allem die Verbraucherinnen und Verbraucher. Die meisten von ihnen verlangen wohlgeformtes Obst, gerades Gemüse und fettarmes Fleisch.
"Die Qualitätsstandards der Supermärkte und Discounter richten sich danach, was die Konsumentinnen und Konsumenten wollen", sagt Agrarwissenschaftler Schmidt, "das ist die größte Crux." Fast ein Drittel aller Lebensmittel wird laut Thünen-Institut bereits bei der Produktion und in der Verarbeitung vernichtet. Große Mengen dieser Abfälle seien völlig unnötig. Noch dramatischer ist die Situation aber in den Haushalten.
640.000 Schweine für den Abfall geschlachtet
Laut des Bundesministeriums für Ernährung und Landwirtschaft wirft jede Person pro Jahr durchschnittlich 75 Kilogramm an Nahrungsmitteln in den Müll. Dazu zählen auch Obstschalen und Tierknochen. Die meisten entsorgten Produkte sind jedoch übriggeblieben, abgelaufen oder im Kühlschrank schlecht geworden. "Über 50 Prozent aller verschwendeten Lebensmittel werden zu Hause weggeworfen", so Schmidt.
Besonders eindrücklich sind die Mengen der Fleisch- und Wurstabfälle in Privathaushalten. Umgerechnet in ganze Tiere enden nach Angaben der Heinrich-Böll-Stiftung jedes Jahr 8,9 Millionen Hühner, 640.000 Schweine, 50.000 Rinder und hunderttausende Puten, Gänse, Enten und Schafe in Deutschland im Abfall. Die Massen an entsorgtem Obst und Gemüse überstiegen diese Werte noch.
Vier Millionen Müllwagenladungen pro Jahr
Insgesamt landen in Deutschland jährlich zwölf Millionen Tonnen Nahrungsmittel in der Müllverbrennung oder auf Deponien. Jede Sekunde gehen 380 Kilogramm Lebensmittel verloren – um all das abzutransportieren, bräuchte es vier Millionen Müllwagenladungen. Das ist nicht nur ein Problem für private Haushaltskassen. Auch die Bundesregierung ist in Sorge. Denn: Hühnerbrust, Brot oder Salat, die für den Abfall produziert werden, verbrauchen ebenso viele Ressourcen wie jene, die gegessen werden.
Neben Ackerfläche betrifft das auch Wasser, Dünger und die Energie für Ernte, Verarbeitung, Verpackung und Transport. Hinzu kommt die Energie für die Entsorgung der verschwendeten Lebensmittel. Um die landwirtschaftlichen Ressourcen zu schonen und etwas für das Klima zu tun, will die Bundesregierung die Menge an Lebensmittelabfällen daher bis 2030 halbieren. Während einige Nachbarländer dasselbe Ziel mit neuen Gesetzen erreichen wollen, setzt Deutschland auf alternative Maßnahmen.
Information statt Zwang
Statt den Supermärkten Wegwerfverbote aufzuerlegen, wie in Frankreich und Tschechien, liegt der Fokus hier auf den Verbrauchern. Mit der Kampagne "Zu gut für die Tonne" versucht das Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft seit drei Jahren, die Bürgerinnen und Bürger zu einem wertschätzenden Umgang mit Lebensmittel zu bewegen.
Tipps für Einkaufsplanung, Lebensmittellagerung und Resteverwendung sollen sensibilisieren und aufklären – vor allem auch darüber, dass das Mindesthaltbarkeitsdatum auf keinen Fall ein Wegwerfdatum ist. Was nicht schimmelt, noch gut riecht und auch so schmeckt, kann ohne Bedenken gegessen oder getrunken werden, so der Rat des Ministeriums. In einigen Ländern ist dieser Aufklärungsansatz bereits erfolgreich gewesen.
Experte: "Die Preise müssen rauf"
Sowohl Dänemark als auch Großbritannien haben es durch Öffentlichkeitskampagnen geschafft, mehr als ein Fünftel an Lebensmittelabfällen in Privathaushalten einzusparen. Lebensmittelexperte Schmidt ist allerdings skeptisch, ob diese Vorgehensweise in Deutschland ebenso effektiv sein wird. "Die Informationskampagne der Bundesregierung und die Bemühungen des Handels sind wichtig, werden aber nicht reichen", mahnt er.
Um die Masse verschwendeter Lebensmittel bis 2030 zu halbieren, gibt es laut Schmidt nur einen Weg: "Die Preise müssen rauf". Tatsächlich sind die Verbraucherpreise in Deutschland im Vergleich zu anderen wohlhabenden EU-Ländern sehr niedrig. Auch das hat Folgen dafür, wie viel Essen entsorgt wird. "Es kostet fast nichts, Lebensmittel zu verschwenden. Den Menschen fehlt dadurch der Anreiz, bewusster mit den Produkten umzugehen", erklärt der Experte.
Lebensmittel künstlich billig gemacht
Schuld sei der gesenkte Mehrwertsteuersatz für Nahrungsmittel und die Tatsache, dass keine der Umweltkosten für die Lebensmittelproduktion auf Warenpreise aufgeschlagen werden. "Die Lebensmittelpreise in Deutschland werden künstlich billig gehalten", so Schmidt. Das sei momentan politisch gewollt, helfe beim Thema Lebensmittelverschwendung jedoch überhaupt nicht.
Es scheint allerdings unwahrscheinlich, dass sich an den Preisen im Supermarkt kurzfristig etwas ändern wird. Zwar haben sich die Grünen den Kampf gegen Lebensmittelverschwendung in ihr Wahlprogramm geschrieben. Ihr geplantes "Rettet-die-Lebensmittel-Gesetz" zielt aber nicht auf die hauptverantwortlichen Verbraucher ab.
Stattdessen will die Partei es Tschechien und Frankreich gleichtun. Sollte sie Teil der nächsten Bundesregierung werden, will sie Handel und Produzenten verpflichten, alle genusstauglichen Lebensmittel zu spenden statt wegzuwerfen. Für Thomas Schmidt wäre das ein Fehler.
"Der Handel hat sehr großen Einfluss auf die Verbraucher. Gerade deshalb brauchen wir da den Schulterschluss mit der Politik, um Verbraucher mehr für das Thema zu sensibilisieren." Zusätzliche Verpflichtungen könnten den guten Willen der Unternehmen aufs Spiel setzen.
- Eigene Recherche
- Gespräch mit Dr. Thomas Schmidt, Thünen-Institut für Ländliche Räume