Gegen die Wohnungsnot Nachhaltigkeit: Studenten testen Bauen und Leben der Zukunft
Heidelberg (dpa/lsw) - Für Johanna hat das große Ausmisten schon begonnen. Klamotten, Bücher, Hygieneartikel müssen auf ein Minimum reduziert werden, wenn sie im Frühjahr ihre neue Wohnung in Heidelberg bezieht.
"Ich fühle mich befreit", sagt die 21-Jährige und zieht in einem winzigen Zimmer imaginäre Linien für Bett, Schrank und Schreibtisch. In so einen Raum wird die Studentin der Sonderpädagogik in wenigen Monaten einziehen und damit eine der ersten Bewohnerinnen des"Collegium Academicum"sein. Mit drei anderen Studenten wird sie einer der 46 Wohngemeinschaften angehören, die sich ökologisches, soziales und selbstverwaltetes Bauen und Leben auf die Fahne schreiben und selbst auch Hand anlegen wollen, etwa beim Möbelbau.
Ziel die Häuser dauerhaft dem Immobilienmarkt zu entziehen
Keimzelle war eine Wohngemeinschaft von elf Studenten in der Heidelberger Altstadt, die einen anderen Lebensstil anstrebten und nach dem Abzug der US-Armee 2013 in einer Projektgruppe erste Überlegungen zur Nutzung der Konversionsflächen anstellten.
Das Vorhaben ist auch Reaktion auf den Mangel an Wohnheimplätzen und bezahlbaren Wohnungen in der Universitätsstadt. Nach Angaben des Studierendenwerkes kamen zum Anfang des Wintersemesters zehn bis zwölf Bewerbungen auf einen Platz. Das Verhältnis eingeschriebener Studenten zu Wohnheimplätzen liegt bei rund 15 Prozent.
Für den 23-jährigen Jost, einen der Gründer des "Collegium Academicum", ist das eine hochpolitische Angelegenheit. Als Mitglied desMietshäuser Syndikatsmit mehr als 150 ähnlichen Wohnprojekten ist das "Collegium Academicum" vor einem Aufkauf durch Spekulanten geschützt. "Unser Ziel ist, die Häuser dauerhaft dem Immobilienmarkt zu entziehen, also eine Mietpreisbremse von unten zu erreichen", erläutert der Geografiestudent. Wenn der Verein, dem das "Collegium Academicum" mehrheitlich gehört, das Wohnheim verkaufen will, kann das Mietshäuser Syndikat sein Veto einlegen.
Johanna kann ein sieben oder ein 14 Quadratmeter großes Zimmer wählen. Dabei gilt die Regel: Je kleiner der individuelle Raum der WG-Mitglieder, desto größer der gemeinschaftlich genutzte Bereich. Die Studentin mit den blau gefärbten Haaren hat sich für das kleinere Zimmer entschieden. "Ich werde die sieben Quadratmeter nehmen, wenn ich mit Menschen zusammen wohne, mit denen ich mich super verstehe. Dann muss ich in meinem Zimmer nur schlafen und arbeiten." Eine Werkstatt, ein Multifunktionsraum, ein Dachgarten und nicht zuletzt eine Aula mit 650 Plätzen zeigen, dass das Miteinander im Vordergrund steht.
Im Schnitt pro Kopf 46,7 Quadratmeter
Die jungen Menschen setzen auch einen Kontrapunkt gegen den Trend zu immer größerem Pro-Kopf-Wohnraum. 1995 lebte ein Baden-Württemberger im Schnitt auf 38,1 Quadratmeter Wohnfläche. 2001 waren es nach Angaben des Statistischen Landesamtes schon 40,4 Quadratmeter und im vergangenen Jahr 46,7 Quadratmeter.
Sollte Johanna einmal Lust auf mehr Platz und weniger Leute haben, kann sie die Größe ihres Zimmerchens mit Hilfe von Schiebetüren auf 14 Quadratmeter verdoppeln. Die Miete liegt bei 310 Euro warm - 80 Euro weniger als in der bisherigen WG. Das Zimmer ist mit einfachen Fichtenmöbeln ausgestattet. Nur von ihrem alten Schreibtisch - ein Familienerbstück - kann sich die junge Frau nicht trennen.
Bei dem Projekt wird erstmals das Bausystem "Open architecture" des Frankfurter Architekten Hans Drexler mit Verbindungen und Knotenpunkten aus Holz angewendet. Vorteil ist, dass Holz Kohlenstoff bindet und nicht wie Zement Kohlenstoff frei setzt und leicht recycelbar ist, wie Jost erläutert.
Der Neubau des "Collegium Academicum" kostet rund 20 Millionen Euro, vor allem durch Kfw- und Bankenkredite, Fördergelder von Kommunen, Land und Bund sowie private Darlehen finanziert. Hinzu kommen Eigenleistungen der künftigen Bewohner, derzeit in Höhe von 380.000 Euro. Johanna arbeitet etwa zehn Stunden pro Woche in der Möbelwerkstatt. Jost bringt es als ehrenamtlicher Kommunikator und Finanzexperte auf 30 bis 40 Stunden wöchentlich. Andere demontieren im Altbau alte Elektroinfrastruktur oder schützen dort erhaltenswerte Elemente wie die Treppengeländer.
Die Zukunft auf dem Acker einer Kommune in Hessen
Zum baulichen Ensemble gehört neben einem Pförtnerhaus, das einmal als Café dienen soll, auch ein Altbau, wo bildungspolitisches Neuland betreten wird. Dort werden einmal um die 70 junge Menschen leben, die sich nach dem Abschluss der Schule in einem Orientierungsjahr über den nächsten Schritt entweder zur Ausbildung oder zum Studium im Klaren werden. Die 180 Studenten im Neubau und ein eigenes Bildungsprogramm sollen ihnen dabei helfen.
Wissenschaftsministerin Theresia Bauer, selbst Heidelbergerin, ist voll des Lobes über das Projekt. "Es ist nicht nur ein gutes Beispiel, wie man günstigen Wohnraum schaffen kann, sondern auch, wie man gut zusammenleben und manches miteinander teilen kann." Die Grünen-Politikerin sagt: "Ich wünsche mir davon noch viel mehr."
Während für Johanna das Abenteuer "Collegium Academicum" gerade erst losgeht, wird sich Jost nach vier Jahren Engagement verabschieden. Er will in puncto alternative Lebensformen noch ein Schippe drauflegen: "Wenn die ersten hier einziehen, werde ich auf dem Acker einer Kommune in Hessen stehen und Gemüse pflanzen."