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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Inzidenzen steigen Ist das die sechste Corona-Welle?
Kurz vor der Aufhebung der meisten Corona-Maßnahmen steigen die Infektionszahlen. Was steckt dahinter? Und: Kann in dieser Situation gelockert werden? Ein Experte erklärt die Lage.
Entgegen vieler Experten-Aussagen scheint der Peak der derzeitigen Corona-Welle noch nicht erreicht. Täglich steigen die Infektionszahlen. Aktuell meldet das Robert Koch-Institut eine Sieben-Tage-Inzidenz von 1.439 (Vortag: 1.388), der neunte Anstieg in Folge.
Auch die Hospitalisierungsinzidenz (also die Angabe darüber, wie viele Menschen wegen Corona in einem Krankenhaus behandelt werden müssen) ist in einigen Bundesländern viel höher als der Bundesschnitt. Dennoch sollen am 20. März die Corona-Maßnahmen massiv gelockert werden. Was steckt dahinter und was bedeutet das für uns? t-online fragte den Mathematiker Kristan Schneider, der die Pandemie modelliert.
t-online: Herr Schneider, müssen wir uns Sorgen machen, dass jetzt die Infektionszahlen doch wieder steigen? Einige Experten sprechen schon von der sechsten Welle ...
Kristan Schneider: Ich gehe davon aus, dass die Fallzahlen nicht wirklich steigen, vielmehr sinkt die Dunkelziffer. Das hat mit der einfachen Tatsache zu tun, dass je mehr Sie testen, sie diese Dunkelziffer auch stärker erhellen. Und desto höher sind folglich auch die Infektionszahlen bei dem derzeitigen Infektionsgeschehen.
Es hieß, der Peak der Infektionen wäre Mitte Februar erreicht worden.
Das stimmt eigentlich nicht. Vielmehr manifestierten sich die geänderte Teststrategie und die Winterferien. Die Zahl der durchgeführten PCR-Tests ging zurück und im gleichen Maße sanken die Infektionszahlen. Gerade durch Schulschließungen und Winterferien schien die Inzidenz bei den Jugendlichen – wo sie besonders hoch war – zurückzugehen.
Zwar wurde durch die Winterferien das Infektionsgeschehen tatsächlich gedrosselt, gleichzeitig gingen aber auch die Tests zurück. Dadurch schienen die Zahlen schneller zu stagnieren und zu sinken, als sie es tatsächlich taten. In der Risikogruppe 65+ stieg die Inzidenz weiter. Ebenfalls stieg der Anteil der positiven Tests. Das ist ein klarer Indikator für steigende oder zumindest stagnierende Zahlen.
Kristan Schneider ist Mathematik-Professor an der Hochschule Mittweida. Sein Forschungsschwerpunkt ist die Modellierung epidemiologischer Prozesse.
Welche Rolle spielen die Lockerungen, die am 4. März in Kraft getreten sind?
Wenn man ohne einen nachhaltigen Abwärtstrend zu früh Kontaktbeschränkungen lockert, steigen die Zahlen sofort wieder. Das ist insofern besonders gefährlich, da die Risikogruppen bei zu hohen Fallzahlen nicht mehr geschützt werden können. Das ist das Heimtückische. Zunächst steigen die Zahlen an den Schulen, da sich niemand traut, die Schulen zu schließen. Dann ist die Inzidenz in einer überhaupt nicht gefährdeten Gruppe sehr hoch und deshalb wird behauptet, das Virus sei nicht mehr gefährlich.
Das Virus wird aber in andere Gruppen weitergetragen.
Ja, mit etwas zeitlichem Versatz steigen dann die Fallzahlen in den Risikogruppen. Jugendliche und Kinder infizieren die Eltern, und die Eltern – ob geimpft oder ungeimpft – schleppen das Virus an den Arbeitsplatz. Die Berufstätigen sind die große Drehscheibe des Infektionsgeschehens, weil hier der größte Grad an Durchmischung vorherrscht.
Und von dort aus wird es weitergegeben.
Schließlich erreicht das Virus dann die Risikogruppen, zu denen auch die Ungeimpften gehören. Das ist die Konsequenz. Sind da die Zahlen zu hoch, machen sich auch Impfdurchbrüche bemerkbar. Das ist ein rein statistischer Effekt. Aber wenn die Impfung eine Effektivität von 90 Prozent hat, erwartet man bei zehn Prozent der Geimpften einen Impfdurchbruch, der zu einem schweren Verlauf führen kann. In absoluten Zahlen können das viele werden, wenn die Inzidenzen zu hoch sind.
Wie hoch ist die Dunkelziffer im Augenblick, was glauben Sie?
Österreich ist in der demografischen Zusammensetzung und der Impfquote mit Deutschland gut vergleichbar. Es werden allerdings viel mehr PCR-Tests durchgeführt. Dort werden gepoolte Gurgel-PCR-Tests eingesetzt. Das heißt, die Menschen spucken nach dem Gurgeln. Dieses Testmaterial wird mit neun anderen Proben vermischt, ist eine positiv, wird nachgetestet. Diese Tests sind qualitativ sicher nicht so hochwertig wie einzelne PCR-Tests mit ordentlichen Nasen- und Rachenabstrichen, aber die Inzidenz in Österreich lag und liegt bei weit über 2.000. Das zeigt, wie hoch die Dunkelziffer in Deutschland eigentlich sein kann.
Welche Rolle spielt Ihrer Meinung nach die BA.2-Variante, die ansteckender sein soll und die viele Experten als Grund für die steigenden Infektionszahlen anführen?
Die spielt meiner Meinung nach eine untergeordnete Rolle. Die Variante hat sich bereits so schnell ausgebreitet, dass man nicht klar zwischen den Varianten unterscheiden kann. Die steigenden Zahlen momentan sind nicht auf diese Variante zurückzuführen, sondern auf das insgesamt hohe Infektionsgeschehen. Sie wirkt sich sicherlich negativ aus und dürfte aggressiver sein, doch anteilsmäßig dürfte sie nicht zu schlimm sein. Das liegt grundsätzlich am milderen Verlauf von Omikron.
Aber Sie warnen weiterhin davor, Omikron zu unterschätzen.
Ja, denn bei dem milden Verlauf ist auch Vorsicht geboten. Wenn die Zahlen zu sehr ansteigen, ist die Sterblichkeit in absoluten Zahlen sehr hoch. Das sieht man in Dänemark. Die Todesfälle kletterten zunächst von 2.700 auf über 5.000 bei etwa 45 Todesfällen pro Tag. Die Pro-Kopf-Sterblichkeit in Dänemark war halb so hoch wie in Deutschland, aber der Anstieg in der Omikron-Welle überproportional hoch. Bald ist der Punkt erreicht, wo jeder zweite Todesfall in Dänemark während der Omikron-Welle erfolgte – trotz 95 Prozent Impfquote bei den Risikogruppen. Davon ist Deutschland noch weit entfernt.
Herr Schneider, wir danken Ihnen für das Gespräch!
- Die Informationen ersetzen keine ärztliche Beratung und dürfen daher nicht zur Selbsttherapie verwendet werden.
- Interview mit Kristan Schneider
- Eigene Recherche