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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Corona-Pandemie Warum die Biontech-Fördergelder ein Fehler waren
Ohne eine weltweite Impfstoffverteilung kann die Corona-Pandemie nicht gestoppt werden. Doch in den armen Ländern kommen kaum Vakzindosen an. Eine Expertin schätzt die derzeitige Lage ein und erklärt, wie die gerechte Verteilung zügig gelingen kann.
Wegen ausfallender Impfstofflieferungen gerät die Impfkampagne in Deutschland ins Stocken. Doch wurden hierzulande bereits über 63 Millionen Impfdosen verspritzt (Stand: 17. Juni). Damit erhielten über 47 Prozent der Deutschen bereits ihre Erstimpfung.
Ein Blick in die armen Länder zeigt: Diese Quote ist enorm hoch. In Afrika zum Beispiel haben nicht einmal zwei Prozent der Bevölkerung eine Erstimpfung erhalten, nur 0,6 Prozent sind vollständig immunisiert (Deutschland: fast 29 Prozent). In einigen Ländern auf dem Kontinent sind die Impfkampagnen noch nicht einmal angelaufen. Was läuft schief?
Klar ist: Auch für die reichen Länder ist die Bekämpfung des Coronavirus weltweit von Interesse. Ohne global einen ausreichenden Impfschutz hergestellt zu haben, sind auch die wohlhabenden Staaten mit hohen Impfquoten nicht vor neuen Varianten des Virus geschützt, die auch unseren Impffortschritt zunichte machen könnten.
Covax auf dem Prüfstand
Knackpunkt bleibt die zentrale Verteilung der Impfstoffe über die von der WHO im April 2020 gegründete Initiative Covax. Fast alle Länder traten damals dem Bündnis bei. Über einen gemeinsamen Fonds sollte der Impfstoff gekauft und verteilt werden. Doch an diese Absprache hielten sich die reichen Länder nicht, die zur Belieferung ihrer Bevölkerung eigene Verträge schlossen. Die Konsequenz: 70 Prozent der verfügbaren Impfdosen landeten in den reichen Ländern. Sie machen aber nur 16 Prozent der Weltbevölkerung aus.
Nun kündigten die sieben führenden Industriestaaten auf ihrem G7-Gipfel an, eine Milliarde Impfdosen spenden zu wollen, die US-Regierung noch einmal zusätzlich 500 Millionen. Bringt das die Welt weiter? t-online sprach mit Elisabeth Massute von "Ärzte ohne Grenzen". Die Hilfsorganisation ist in mehr als 250 Projekten in 63 Ländern gegen die Pandemie im Einsatz.
t-online: Frau Massute, wie läuft die weltweite Impfstoffverteilung derzeit?
Elisabeth Massute: Um die Pandemie weltweit in den Griff zu bekommen, werden laut WHO elf Milliarden Impfdosen gebraucht. Covax wollte bis Juni drei Prozent der Bevölkerungen in 140 Ländern geimpft haben, hat aber nur 25 Prozent davon geschafft, in ärmeren Ländern sind also nicht mal ein Prozent der Bevölkerungen geimpft. Zwei Milliarden Impfdosen sollten von Covax bis Ende 2021 weltweit verteilt werden, effektiv werden es eine Milliarde sein.
Elisabeth Massute ist politische Referentin in der Medikamentenkampagne von Ärzte ohne Grenzen in Berlin. Sie beschäftigt sich insbesondere mit dem gerechten und bezahlbaren Zugang zu lebensnotwendigen Medikamenten.
Covax hat in vielen ärmeren Ländern große Enttäuschung hinterlassen, als die reicheren Länder aus dem Plan der gemeinsamen Impfstoffbeschaffung und -verteilung ausstiegen und bilaterale Verträge mit den Herstellern schlossen. Viele arme Länder können sich solche Geschäfte nicht leisten.
Warum läuft die Verteilung über Covax weiter so schleppend?
Die momentane Impfstoffknappheit besonders in ärmeren Ländern hat auch damit zu tun, dass ein Großteil der von Covax bestellten Impfdosen in Indien produziert werden sollte, Indien jedoch nach dem massiven Corona-Ausbruch im Mai zunächst keine Impfstoffe mehr exportiert. Bis Ende März stammten 90 Prozent der Dosen, die über Covax verteilt wurden, aus dem "Serum Institut of India", dem größten Impfstoffhersteller der Welt.
Also müssten jetzt andere Produzenten einspringen?
Ja, und wichtig ist aus unserer Sicht vor allem die zeitliche Dimension. Die Impfdosen müssen jetzt schnell verteilt werden, auch schon aus dem Eigeninteresse der westlichen Welt zur Vorbeugung von Varianten, die auch in unseren Ländern den Impffortschritt zunichtemachen könnten. Die ärmeren Länder müssten nicht nur mit Impfstoff, sondern auch zum Beispiel mit Schnelltests, Medikamenten oder Schutzausrüstung versorgt werden.
Nur Impfdosen und Ausrüstung in die armen Länder zu bringen, reicht aber Ihrer Meinung nach nicht aus.
Es ist nötig, dass in diesen Ländern eigene Produktionskapazitäten aufgebaut werden. Sonst stehen diese Länder bei einer eventuell nötigen Nachimpfung oder einer neuen Mutante vor dem gleichen Problem wie heute: dass sie abhängig von den Abgaben der reichen Länder oder einzelnen Hersteller sind. Mit eigenen Produktionskapazitäten könnte zudem schnell auf lokal auftretende Varianten reagiert werden. Gerade die mRNA-Impfstoffe lassen sich dahingehend ja schnell anpassen.
Wie schnell wäre das umsetzbar?
Ein Um- oder Ausbau bereits bestehender Produktionsstätten könnte nach unterschiedlichen Berechnungen in nur sechs Monaten erfolgen. Auch in Afrika gibt es dazu geeignete Stätten. Hier ist staatliches Handeln gefragt, denn sich allein auf die Hersteller und auf eine freiwillige Zusammenarbeit zu verlassen, hat bisher nicht funktioniert.
Was wäre darüber hinaus nötig?
Unsere Forderung ist, die geistigen Eigentumsrechte auf Covid-19-Technologien, auch Impfstoffpatente, für mindestens drei Jahre auszusetzen und Technologietransfers in die ärmeren Länder zu starten. Es war ein großer Fehler, die millionenschweren Fördergelder für die Impfstoffentwicklung von Biontech und Curevac nicht an solche Bedingungen zu knüpfen, damit der Impfstoff der ganzen Welt zugutekommen kann.
Welche Probleme ergeben sich darüber hinaus bei der Verteilung vor Ort?
Bei der Impfstoffverteilung im Speziellen geht es auch darum, eine ausreichende Infrastruktur zu gewährleisten. Bevor ein Land Impfstoff von Covax bekommt, müssen dort auch Konzepte für die Verteilung eingereicht werden, also auch der Zugang vor Ort organisiert sein. Aber aus der Erfahrung von Ärzte ohne Grenzen lässt sich sagen: Das sind alles keine unüberwindbaren Hürden. So konnte auch in den ärmsten Ländern zum Beispiel der Polio-Impfstoff verteilt werden und der muss bei minus 20 Grad gekühlt werden.
Wie viel Geld wird benötigt, um einen weltweit ausreichenden Impfschutz herstellen zu können?
Nach Berechnungen der WHO würden 50 Milliarden Dollar (ca. 41 Milliarden Euro) ausreichen, um die Pandemie zu beenden. Das ist im Vergleich zum Beispiel zu den in Deutschland aufgelegten Wirtschaftshilfsprogrammen nicht viel, und kommt auch der Wirtschaft der reichen Länder zugute. Bereits jetzt kommt es aufgrund der pandemischen Lage in einigen Branchen zu Lieferengpässen.
Gefragt sind jetzt die reichen Länder, sowohl bei der schnellen Abgabe von Dosen als auch bei einer ausreichenden Finanzierung von Covax. Zwar gibt es einzelne Länder im Süden, die imstande sind, eigene bilaterale Verträge mit den Herstellern zu schließen, aber teilweise zahlen diese Staaten für eine Impfdosis sogar mehr als europäische Länder. Andere Staaten können sich diese Summen aber gar nicht leisten. Außerdem ist der Markt für dieses Jahr bereits leergekauft worden. Hier ist die Solidarität der reichen Länder gefragt.
Frau Massute, wir danken Ihnen für das Gespräch!
- Die Informationen ersetzen keine ärztliche Beratung und dürfen daher nicht zur Selbsttherapie verwendet werden.
- Interview mit Elisabeth Massute (15. Juni 2021)
- Eigene Recherche