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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Impftempo macht Hoffnung Wann erreicht Deutschland die Herdenimmunität?
Seit die Impfkampagne in Deutschland Fahrt aufnimmt, fragen sich viele: Wann haben genug Menschen die Spritze erhalten, damit das Land wieder aufmachen kann? Die Herdenimmunität spielt dabei eine zentrale Rolle. Doch was ist das eigentlich und wann ist sie erreicht? Experten erklären das Modell.
Der rettende Piks gegen das Coronavirus ist derzeit in aller Munde. Die allermeisten sehnen ihn herbei. Damit verbunden ist auch die Hoffnung, dass der lähmende Lockdown des Landes dann enden kann. Wann das erreicht werden kann, hängt zentral mit dem Begriff der Herdenimmunität zusammen.
Was ist Herdenimmunität?
Klar ist: Das Coronavirus braucht uns Menschen, um überleben zu können. Nur indem sich immer neue Menschen mit ihm infizieren, wird sein Fortbestand gesichert. Sind mehr seiner potenziellen Wirte immun gegen das Virus – entweder durch Impfung oder nach überstandener Infektion –, verliert es seine Verbreitungsmöglichkeiten.
"Vereinfacht gesagt ist Herdenimmunität ein Zustand in der Bevölkerung, bei dem so viele Menschen entweder durch Impfung oder nach durchgemachter Infektion eine Immunität haben, dass das Virus keine neuen Wirte mehr findet. Es hungert aus", erklärt der Präsident der Gesellschaft für Virologie, Dr. Ralf Bartenschlager, im Gespräch mit t-online. Er führt ein einfaches Beispiel an: "Wenn sich zehn Personen in einem Raum aufhalten, in dem neun geimpft sind und einen hundertprozentigen Immunschutz haben, ist das für die ungeimpfte Person unproblematisch, weil keiner der neun Geimpften das Virus an die ungeimpfte Person weitergeben kann. Sie ist quasi 'passiv' geschützt. Sind jetzt aber zum Beispiel nur acht Geimpfte darunter, dann können die beiden Ungeimpften sich untereinander anstecken." Das Virus hat also die Chance, sich weiterzuverbreiten.
Gäbe es keine Impfungen und keine Kontaktbeschränkungen, würde das Virus die Gesellschaft durchseuchen. Auch dann würde irgendwann Herdenimmunität entstehen. Zu Beginn der Pandemie setzten einzelne Staaten zunächst auf dieses Konzept. Doch es zeigte sich schnell: Der Preis ist zu hoch. "Gott sei Dank wurde in Deutschland das Konzept, die Herdenimmunität auf dem Weg einer Durchseuchung der Bevölkerung zu erreichen, aufgegeben. Dieser Weg hätte zu deutlich mehr Toten geführt", erklärt der Epidemiologe Dr. Markus Scholz von der Universität Leipzig im Gespräch mit t-online.
Wann ist Herdenimmunität erreicht?
Bis Anfang des Jahres galt: Sind etwa 60 bis 70 Prozent der Deutschen immun gegen das Virus – als Geimpfte oder Genesene –, ist Herdenimmunität erreicht. Doch dann erschwerte eine Virusmutante den ohnehin steinigen Weg. Sie tauchte im Dezember in Großbritannien auf und wurde schnell auch in Deutschland zur dominierenden Variante. Die britische Mutante gilt als deutlich ansteckender.
Ohne Maßnahmen zur Eindämmung (wie Maskentragen, Kontaktbeschränkungen etc.) hatte die bis Anfang des Jahres in Deutschland dominierende Virusvariante einen R-Wert von etwa 3. Das heißt: Ein Infizierter steckt im Schnitt drei weitere Menschen an. Die britische Mutante ist um etwa 30 bis 35 Prozent ansteckender. Bedeutet: Ein mit ihr Infizierter steckt vier Menschen an. Das erschwert die Virusbekämpfung.
Das RKI teilte dem MDR mit: "Durch die ansteckendere britische Mutante, die inzwischen auch in Deutschland dominiert, ist der Anteil der Immunität, die man fürs Stoppen braucht, gestiegen, die anfangs vermuteten etwa 60 Prozent reichen nicht mehr, vermutlich sind es jetzt 70 bis 80 Prozent."
Die größten Stolpersteine
Die Impfbereitschaft schwankt
Derzeit sind diejenigen, die sich den Piks verpassen lassen wollen, in der übergroßen Mehrheit. Eine repräsentative Umfrage von infratest dimap für den ARD-Deutschlandtrend ergab: Drei Viertel der Deutschen (75 Prozent) wollen sich auf jeden Fall gegen Corona impfen lassen oder haben bereits eine Impfung erhalten, das sind 15 Prozent mehr als im Februar. Weitere elf Prozent wollen dies wahrscheinlich tun. Sechs Prozent sind wahrscheinlich nicht bereit, sich gegen Corona impfen zu lassen, sieben Prozent auf gar keinen Fall.
Das Problem: Je nach Gefühls- und Bedrohungslage schwanken diese Werte. Dr. Lars Dölken, Virologe der Universität Würzburg, erklärte im Gespräch mit t-online: "Saisonal bedingt werden wir im Sommer wieder sehr niedrige Inzidenzen haben – zumindest so niedrig wie im letzten Sommer, wahrscheinlich aufgrund der zunehmenden Impfungen sogar noch niedriger. Das wird bei vielen Menschen zu dem Gefühl führen, dass das Virus keine große Gefahr mehr darstellt. Damit könnte die Impfbereitschaft im Herbst merklich nachlassen." Sein Appell: "Das gilt es unbedingt zu vermeiden. Wir müssen den Menschen anhand harter Daten von Millionen von Geimpften und Covid-19-Patienten klarmachen, dass es sich für jeden Einzelnen von uns lohnt, sich impfen zu lassen."
Die Wirksamkeit der Corona-Impfstoffe
Klar ist: Die zugelassenen Impfstoffe schützen vor schweren Krankheitsverläufen. Für die Entwicklung einer Herdenimmunität ist jedoch besonders entscheidend, wie wirksam sie vor Infektionen schützen. Die bisherige Studienlage ergibt: Diese Werte liegen zwischen 80 und 95 Prozent. Das heißt: Auch Geimpfte können das Virus weitergeben. Die Wahrscheinlichkeit dafür ist zwar deutlich geringer, aber ganz auszuschließen ist es nicht.
Wie lange hält die Immunität?
Das ist unklar. Epidemiologe Markus Scholz: "Wir wissen leider noch nicht, wie lange die Immunität bei Genesenen anhält und auch die Dauer der Schutzwirkung der Impfungen ist noch unbekannt. Auch das kann den Weg zur Herdenimmunität behindern. Es scheint aber deutlich zu werden, dass Genesene bei einer Wiederansteckung allgemein mildere Krankheitsverläufe haben."
Keine Impfstoffe für kleine Kinder
Ein besonders großes Problem stellt für die Experten die Gruppe der Kinder dar. Zwar hat der Hersteller Biontech bereits einen Antrag auf Zulassung seines Impfstoffes für Teenager ab zwölf Jahren gestellt, doch für jüngere Kinder gibt es bislang keine Vakzine. Sie haben aber – außerhalb der aktuell geltenden Beschränkungen – besonders viele Sozialkontakte.
Scholz: "Je früher Impfungen von Kindern möglich sind und diese auch praktiziert werden, desto niedriger ist die nötige Impfquote bei Erwachsenen." Das Problem ist: An medizinische Studien mit Kindern werden verständlicherweise weitaus höhere ethische Ansprüche gestellt. "Sie sind eben nicht nur kleine Erwachsene. Das verzögert eine Zulassung von Impfstoffen. Zudem ist hier die Risikoabwägung schwieriger, da Kinder in der Regel nicht schwer erkranken und somit von den Impfungen selbst weniger profitieren."
Virusmutationen sind nicht kalkulierbar
Neu auftretende Virusvarianten, auf die die Impfstoffe dann angepasst werden müssten, könnten vielen Bemühungen einen Strich durch die Rechnung machen. "Dieses Szenario ist leider durchaus denkbar. Dann müsste die Impfkampagne von vorne beginnen, auch wieder mit der entsprechenden Priorisierung der besonders gefährdeten Gruppen. Die gute Nachricht ist aber: Das Coronavirus mutiert weniger stark als zum Beispiel das Grippevirus, das heißt, jährliche Impfkampagnen wie bei der Grippe würden aller Voraussicht nach auch hier ausreichen", so Markus Scholz
Auch der Präsident der Gesellschaft für Virologie, Dr. Ralf Bartenschlager, gibt Entwarnung: "Die Gefahr, dass das Virus zu einer deutlich aggressiveren Variante mutieren könnte, besteht, ist aber nicht wahrscheinlich. Aus der Natur kennen wir eigentlich eher das Gegenteil: Das Virus passt sich seinem Wirt immer besser an und mutiert dann eher zu harmloseren, weniger aggressiven Varianten."
Und noch eine gute Nachricht: Speziell die neu entwickelten mRNA-Impfstoffe lassen sich gut an neue Mutanten anpassen.
Das Verhalten jedes Einzelnen zählt
Klar ist: Herdenimmunität ist ein Modell. Sie ist auch abhängig davon, wie jeder Einzelne sich verhält und welche allgemeinen Maßnahmen zur Viruseindämmung erhalten bleiben – zum Beispiel weiteres Maskentragen oder fortbestehende Auflagen in öffentlichen Räumen. Lassen sich im schlimmsten Fall doch nicht genug Menschen impfen, bleiben Fragen wie: Handelt es sich bei den Impfverweigerern um Menschen mit vielen Kontakten oder leben sie eher zurückgezogen? Leben sie in sehr großen oder eher kleinen Haushalten oder Familien? Im einen oder anderen Fall stellen sie ein größeres oder kleineres Risiko für die Virusausbreitung dar. Diese Faktoren sind allerdings schwer kalkulierbar.
Der Ausblick: Wann haben wir Herdenimmunität?
In der vergangenen Woche wurden bereits deutliche Erleichterungen für Genesene und Geimpfte beschlossen. Und auch negativ Getestete sollen etwa in den Biergarten gehen oder Urlaub machen können. Entscheidend für diese Lockerungen sind die Sieben-Tage-Inzidenz und der R-Wert. Epidemiologe Markus Scholz: "Herdenimmunität ist dann erreicht, wenn der R-Wert selbst bei vollständigen Öffnungen unter 1 bleibt, also ein Infizierter weniger als einen weiteren Menschen ansteckt. Das bringt die Ausbreitung des Virus unter Kontrolle."
Wann das dauerhaft erzielt sein wird, ist schwer zu kalkulieren, aber der Epidemiologe Scholz gibt einen Ausblick: "Ich denke, selbst wenn Herdenimmunität noch nicht vollständig erreicht ist, wären flächendeckende Lockerungen vertretbar, wenn allen Bürgern ein Impfangebot gemacht werden konnte. Das könnte innerhalb der nächsten zwei bis drei Monate erreicht werden. Ich bin optimistisch, dass die überwiegende Mehrheit dieses Angebot annehmen wird, sodass auch ohne vollständige Herdenimmunität eine Überlastung des Gesundheitssystems bei einer eventuellen weiteren Welle nicht mehr zu erwarten wäre."
- Die Informationen ersetzen keine ärztliche Beratung und dürfen daher nicht zur Selbsttherapie verwendet werden.
- Interview mit Ralf Bartenschlager vom 6. Mai 2021
- Interview mit Markus Scholz vom 5. Mai 2021
- Interview mit Ulrich Dölken vom 28. April 2021
- MDR: "Impfungen: Anfang Juli könnte Deutschland Herdenimmunität erreichen", 26. April 2021
- ARD-Deutschlandtrend
- Eigene Recherche