Mehr als 150 Journalistinnen und Journalisten berichten rund um die Uhr für Sie über das Geschehen in Deutschland und der Welt.
Zum journalistischen Leitbild von t-online.Corona-Brennpunkt Wie Forscher mit Detektivarbeit das Virus bändigen wollen
Wie infektiös ist das neue Coronavirus? Hendrik Streeck untersucht das im Kreis Heinsberg. Die Studienergebnisse könnten Einfluss auf künftige politische Maßnahmen haben.
Wenn Hendrik Streeck dieser Tage Journalistenfragen beantwortet, dann am liebsten gesammelt über Pressekonferenzen per Videoschalte. Der Virologe ist neben dem Charité-Forscher Christian Drosten gerade einer der populärsten und gefragtesten Experten zum Thema Coronavirus. Derzeit leitet er im nordrhein-westfälischen Landkreis Heinsberg eine große Studie, in die auch die Politik große Hoffnungen setzt.
Denn Streecks Untersuchung ist die erste, die eine für Deutschland repräsentative Stichprobe der Bevölkerung untersucht. Der 42-jährige Direktor am Institut für Virologie im Universitätsklinikum Bonn und sein Team wollen herausfinden, über welche Wege sich das neue Coronavirus SARS-CoV-2 überträgt, wie viele der Covid-19-Patienten auf der Intensivstation landen oder versterben, und wie hoch die Dunkelziffer ist – also die Zahl derjenigen, die sich unbemerkt mit dem Virus anstecken.
"Anhand der Dunkelziffer können wir errechnen, wie hoch der Bedarf der Bevölkerung an Intensivbetten sein wird", sagt Streeck in seiner jüngsten Videokonferenz, in der er Journalistenfragen zum Ablauf der Studie beantworten will.
Wir benötigen Ihre Einwilligung, um den von unserer Redaktion eingebundenen X-Inhalt anzuzeigen. Sie können diesen (und damit auch alle weiteren X-Inhalte auf t-online.de) mit einem Klick anzeigen lassen und auch wieder deaktivieren.
Klinken inspizieren auf der Suche nach SARS-CoV-2
Insgesamt 1.000 Menschen und 300 ausgewählte Haushalte nehmen die Forscher für ihre ehrgeizige Untersuchung unter die Lupe, unter anderem mithilfe von Tests und Befragungen. "Die Haushalte sind wichtig, um zu sehen, wie und wie häufig dort eine Übertragung des Coronavirus stattfindet – etwa von Schulkindern auf ihre Eltern oder Großeltern", sagt Streeck, dessen Team auch unter dem Hashtag #heinsbergprotokoll auf Twitter Neuigkeiten rund um seine Corona-Forschung teilt.
Seine Mitarbeiter prüfen die Probanden nicht nur mithilfe des üblichen PCR-Tests, bei dem ein Abstrich aus dem Rachen genommen wird. Sie führen zusätzlich auch Antikörpertests im Blut durch – bei Kindern, Erwachsenen, bei Menschen mit Symptomen und ohne Krankheitszeichen.
Doch damit nicht genug. In Haushalten mit nachweislich Infizierten inspizieren die Forscher auch Toilettenwasser, Türklinken, Fernbedienungen. Denn noch gibt es keine lebensnahe Studie dazu, ob sich das Virus etwa auf Metall oder Plastik hält, auf solchen unbelebten Materialien also weiter zur Vermehrung fähig ist.
War Heinsberg wirklich der Ausgangspunkt?
Die besonders von SARS-CoV-2 betroffene Region Heinsberg in NRW haben die Forscher auch darum gewählt, weil sich das Virus in der dortigen Gemeinde Gangelt Mitte Februar bei einer Karnevalssitzung schnell ausgebreitet haben soll. "Wir wollen schauen, ob die Sitzung wirklich zu einer starken Verbreitung von SARS-CoV-2 geführt hat und wie die Leute dort interagiert haben", erklärt Streeck.
Und noch eine Frage hoffen die Wissenschaftler beantworten zu können: Was haben diejenigen anders gemacht, die sich trotz näherem Kontakt mit Infizierten nicht angesteckt haben? "Je mehr Daten wir haben, desto mehr Schlüsse können wir daraus ziehen", meint Streeck.
In der Praxis heißt das auch: Die Erkenntnisse aus der repräsentativen Studie könnten mit darüber entscheiden, wann der Shutdown beendet ist oder zumindest bestimmte Schutzmaßnahmen gelockert werden.
Wissenschaft entscheidet nicht über das Vorgehen in der Corona-Krise
Empfehlungen an die Politik könne er aber nicht geben, betont Streeck auf Nachfrage von t-online.de. "Man verlangt Schwarzweiß-Antworten von der Wissenschaft – aber die kann diese nicht geben." Der Forscher steht allerdings in direktem Kontakt mit der nordrhein-westfälischen Landesregierung, die die Studie auch beauftragt hat. Neue Ergebnisse sollen Ministerpräsident Armin Laschet schnellstmöglich erreichen, aber ebenso schnell auch die Bevölkerung, betont Streeck.
Seine geradezu detektivische Recherche nach den optimalen Bedingungen für das Virus könnte schließlich beeinflussen, wie der Alltag in Deutschland nach den Osterferien weitergeht. "Wir reden hier aber nicht über eine Exit-Strategie", stellt Streeck in der Videokonferenz klar. "Als Bürger finde ich es auch nicht sinnvoll, die ältere Bevölkerung wegzuschließen."
Er gehe vielmehr davon aus, dass manche Maßnahmen gelockert werden, andere aber nicht, meint Streeck. Erst einmal habe sein Team aber noch alle Hände voll zu tun. Und viele "Klinken zu putzen" auf der Suche nach SARS-CoV-2.
- Die Informationen ersetzen keine ärztliche Beratung und dürfen daher nicht zur Selbsttherapie verwendet werden.