Kindergesundheit Leben mit quälendem Geräusch-Chaos im Kopf
Zeno trägt ein Hörgerät. Dabei hört er ziemlich gut. Man könnte sogar sagen, er hört zu gut. Denn der Neunjährige ist ohne das Gerät nicht in der Lage, aus den üblichen Nebengeräuschen das Wesentliche herauszufiltern. Alles ist gleich laut und es gelingt ihm nicht, gesprochene Sprache vom Störlärm zu unterscheiden. Das Blubbern der Kaffeemaschine, ein tropfender Wasserhahn, Füßescharren und Schreibgeräusche - das alles verbindet sich zu einem unglaublichen Orchester. Das Phänomen heißt in der Fachsprache Auditive Verarbeitungs- und Wahrnehmungsstörung, kurz AVWS, und es betrifft immerhin rund zwei bis drei Prozent aller Kinder.
AVWS in Deutschland noch weitgehend unbekannt
ADHS kennt man inzwischen, ADS auch, aber AVWS? Diese Störung, die laut amerikanischen Studien angeblich bis zu 20 Prozent der Bevölkerung betrifft, ist bisher noch bei vielen deutschen Ärzten und Therapeuten unbekannt. "Auditive Verarbeitung und Wahrnehmung" bedeutet vereinfacht gesagt, dass akustische Signale, also Geräusche, Laute und Sprache nicht nur gehört, sondern auch korrekt erkannt und eingeordnet werden. Dabei werden die Signale auf der unbewussten Ebene gefiltert und vorverarbeitet und auf der bewussten Ebene wahrgenommen. Und genau dieser Vorgang funktioniert bei von AVWS Betroffenen nicht einwandfrei.
Wer unter AVWS leidet, entwickelt im Laufe der Jahre seine Strategien
Betroffene Erwachsene haben im Lauf ihres Lebens gelernt, damit umzugehen und Strategien zu entwickeln, sich trotz der enormen Geräuschquellen, die sie wahrnehmen, zu konzentrieren. Sie vermeiden Großveranstaltungen, haben massive Probleme, Lautsprecherdurchsagen zum Beispiel an Bahnhöfen zu verstehen und müssen sich bei Filmen aufgrund der Hintergrundgeräusche ziemlich konzentrieren. Dass sie unter einer Störung leiden, die tatsächlich einen Namen hat, wissen sie in der Regel nicht. Auch bei betroffenen Kindern wird die Möglichkeit von AVWS noch viel zu selten in Betracht gezogen. Und das, obwohl es theoretisch durchaus vernünftige Standards für die Diagnosestellung gäbe.
Die Existenz von AVWS wurde von Fachleuten eindeutig bestätigt
Die Deutsche Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie hat ein sogenanntes "Konsensuspapier" herausgegeben, in dem unter anderem beklagt wird, dass derzeit nur wenige deutsche Studien zum Erfolg therapeutischer Maßnahmen beziehungsweise zur Prognose bei auditiven Verarbeitungs- und Wahrnehmungsstörungen vorliegen. Die Autoren, federführend der Arzt Andreas Nickisch von der Abteilung für Phoniatrie und Audiologie im Kinderzentrum der Universität München, sind sich aber aufgrund ihrer Erfahrungen in der Praxis einig, dass die Störung bis zu einem gewissen Maß therapierbar ist. "Bezüglich Auditiver Verarbeitungs- und Wahrnehmungsstörungen bleiben eine ganze Reihe von Fragen offen. Diese offenen Fragen bedeuten allerdings nicht, dass die Existenz von Störungen der auditiven Verarbeitung und Wahrnehmung abgelehnt werden darf", heißt es in dem Papier. Die Autoren bestehen darauf, dass nach Stellung der Diagnose gemäß der von ihnen genannten Richtlinien unbedingt eine Therapie verordnet und durchgeführt werden muss.
Betroffene Kinder brauchen die Unterstützung ihres Umfelds
Im Fall von AVWS gibt es keine einheitliche Therapie. Der Therapeut muss immer eine Einzelfallentscheidung treffen, da die Kinder in ganz unterschiedlichen Bereichen mit Hörproblemen zu kämpfen haben. Jeder Ansatz ist also individuell. "Ich persönlich", so die Audiotherapeutin Karen Morlok, "finde eine Anleitung für die Eltern zum spielerischen Hörtraining zuhause immens wichtig. Denn ein Therapeut kann nicht in der einen halben Stunde, in der er das Kind in der Woche sieht, alle seine Probleme lösen." Schon ein tägliches "Hörtraining" von einer Viertelstunde führt zur Verbesserung der auditiven Wahrnehmung. Für Eltern, die die Zeit nicht haben, gibt es sogar entsprechende PC-Programme. Wobei diese lang nicht so erfolgversprechend sind wie das persönliche Training.
Nebengeräusche so gut wie möglich vermeiden
Zeno hat Glück. Seine Eltern achten verstärkt darauf, dass alles für ihn getan wird. Blickkontakt bei Gesprächen, kurze und klar formulierte Anweisungen und der Versuch, Störgeräusche zumindest während der Hausaufgabenzeit zu vermeiden, sind dabei für die Familie inzwischen selbstverständlich geworden. "Wir spielen gemeinsam entsprechende Spiele, haben ihn zum Taekwondo angemeldet, weil das überkreuzte Denken und das Arbeiten mit einem Partner positive Auswirkungen zeigen und wir achten darauf, dass seine Lehrer über die Störung informiert sind und entsprechende Möglichkeiten an die Hand bekommen, darauf zu reagieren", erzählt seine Mutter.
AVWS tritt selten alleine auf
Auditive Verarbeitungs- und Wahrnehmungsstörungen können isoliert auftreten, zeigen sich aber häufig in Kombination mit anderen Störungen. Bei Zeno ist es die Legastenie. Oft sind es auch Sprachentwicklungs-, Aufmerksamkeits- und Verhaltensstörungen. "AVWS und ADS sind sich in gewisser Weise ähnlich, manche Anzeichen überschneiden sich. Aber der Ursprung ist ein anderer. Letztendlich fehlt Zeno der Filter, er kann nicht unterscheiden, was wichtig ist und was nicht", so Sabine. "Auf der einen Seite bin ich jetzt, nachdem wir die Diagnose haben, sehr beruhigt, dass es kein ADS ist und auf der anderen Seite mache ich mir schon immer wieder Sorgen um die schulische Laufbahn unseres Sohnes. Gott sei Dank haben wir mit der Grundschullehrerin diesbezüglich wirklich Glück gehabt. Sie kannte AVWS zwar nicht, war aber offen für Aufklärung."
Kindergärten sind für AVWS-Kinder eine Qual
Nach Abschluss der vierten Klasse wird Zeno eine private Ganztagesschule besuchen, da es dort mehr Möglichkeiten gibt, auf seine Besonderheit Rücksicht zu nehmen. Das beginnt mit der richtigen Sitzordnung, bei der das Kind möglichst nah am Lehrer sitzt. In manchen Fällen ist es auch wichtig, den betroffenen Schüler so zu setzen, dass er die anderen sehen kann. Das Kind sollte jederzeit die Möglichkeit haben, nachzufragen, wenn es etwas nicht verstanden hat und ein Zeichen geben dürfen, wenn es zusätzliche Hilfe benötigt. Filzgleiter an Tischen und Stühlen, textile Wandbehänge oder Teppiche verringern die Geräuschkulisse und machen es dem von AVWS betroffenen Kind noch einfacher, dem Unterricht zu folgen. Ähnliches gilt auch für Kindergärten, die durch ihre Lärmkulisse oft für AVWS-Kinder besonders quälend sind. Spielzeugmatten, ein ruhiger Platz im Sitzkreis und ein Ort zum Zurückziehen können hier schon viel bringen.
Aussagekräftige Testergebnisse bereits im Vorschulalter
Der Verdacht auf AVWS erfordert das Hinzuziehen von Fachleuten aus den Bereichen Audiologie/Pädaudiologie oder Phoniatrie. Es gibt Kliniken mit entsprechenden Instituten, wie zum Beispiel am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf. Bei Verdacht auf eine Auditive Verarbeitungs- und Wahrnehmungsstörung wird hier bei Kindern ab fünf Jahren eine entsprechende Untersuchung der Hörverarbeitung gekoppelt mit einer testpsychologischen Untersuchung der Hörwahrnehmung angeboten und bei Bedarf eine Therapieempfehlung ausgesprochen. Da die Motivation, die Aufmerksamkeit und die Mitarbeitsbereitschaft bei kleineren Kindern oft geringer ist, wird bei Kindern ab vier eine Unterscheidung zwischen "auffällig" und "unauffällig" getroffen, die man später noch einmal genauer unter die Lupe nimmt.
AVWS hat viele Namen
Es existieren mehrere Bezeichnungen für die gleiche Entwickungsstörung. Früher sprach man von Seelentaubheit oder auch einer psychogenen Hörstörung, der englischsprachige Raum verwendet die Abkürzungen CAPD oder APD für "central auditory processing disorder" beziehungsweise "auditory processing disorder". Seit dem Jahr 2006 ist AVWS auch bei uns eine anerkannte Entwicklungsstörung, die sich in Arztberichten, Schreiben von Therapeuten und bei Verordnungen von Diagnosen hinter der Schlüsselnummer F80.20 versteckt.
- Die Informationen ersetzen keine ärztliche Beratung und dürfen daher nicht zur Selbsttherapie verwendet werden.