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Kommen Kinder wirklich früher in die Pubertät?


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Ausschlaggebende Faktoren
Kommen Kinder wirklich immer früher in die Pubertät?

Von Philipp Kohlhöfer

Aktualisiert am 24.09.2022Lesedauer: 6 Min.
Tochter mit erzürnter Mutter (Symbolbild): Welche Faktoren die Pubertät auslösen, erklärt Philipp Kohlhöfer.Vergrößern des Bildes
Tochter mit erzürnter Mutter (Symbolbild): Welche Faktoren die Pubertät auslösen, erklärt Philipp Kohlhöfer. (Quelle: Highwaystarz/LOOP IMAGES/imago-images-bilder)

Schlechte Ernährung, Stress und Chemikalien sollen für eine immer frühere Pubertät bei Mädchen verantwortlich sein. Aber ist das die ganze Wahrheit?

Ich habe gar keinen Teenager zu Hause, sondern ein Teenagerklischee. Es erfüllt alles, was man erwartet: schlechte Laune, genervt sein, fünf Stunden im Bad, nur Quatsch essen, in der Schule auch schon mal besser gewesen sein und beim Sport hat sie zurzeit weniger Ehrgeiz als unsere Küchenstühle, weil Schwitzen einfach nicht cool ist. Nicht, dass wir uns falsch verstehen: Meine Tochter ist das beste Kind der Welt. Ich finde sie grandios und sie findet mich peinlich.

Und Letzteres ist nun schon so seit Jahren. Dabei ging es in unserem Fall (man ist ja immer mitbetroffen) gar nicht mal so früh los mit der Pubertät, eher durchschnittlich. Aber auch das ist immer früher: Mädchen in der Generation meiner Tochter erleben die erste Periode ein Jahr früher als ihre Mütter. Dabei ist das gar nicht entscheidend, denn die Pubertät beginnt im Kopf.

Philipp Kohlhöfer ist Autor und Kolumnist und lebt in Hamburg. Er arbeitet unter anderem für das Magazin "Geo" und das Forschungsnetz Zoonotische Infektionskrankheiten, gefördert vom Bundesministerium für Bildung und Forschung. Kohlhöfer verfasst zudem Drehbücher und entwirft Kommunikationskonzepte. Für eine Geschichte im Pazifik wurde er beschossen, für eine andere marschierte er tagelang durch den Regenwald. 2021 hat er den Bestseller "Pandemien. Wie Viren die Welt verändern" veröffentlicht.

Dann, wenn eine Drüse im limbischen System des Gehirns ein Hormon freisetzt, das die Hirnanhangdrüse veranlasst, zwei weitere Hormone freizusetzen, die über ein paar Zwischenschritte die Produktion von Östrogen und Testosteron ankurbeln – was für das Wachstum primärer und sekundärer Geschlechtsorgane sorgt. Andere Hormone, die in den Nebennieren gebildet werden, regeln den Rest, der dazugehört: Körperhaare und Pickel; und plötzlich fangen Jugendliche auch an zu stinken, als wären sie tote Kühe, die unentdeckt auf einer Alm zu lange in der Sonne liegen.

Letzteres, bedingt durch die Nebennierenreifung, startet mindestens sechs Monate, manchmal auch mehrere Jahre vor der eigentlichen Pubertät. Wenn die dann mit der Ausschüttung von Wachstumshormonen beginnt, dauert sie zwischen vier und fünf Jahren. In der Hälfte der Zeit wächst der Nachwuchs wie Unkraut. In der anderen Hälfte ist es eher Nachjustieren und Feintuning.

Natürliche Dramen

Eine frühere Pubertät bringt dabei ein frühes Wachstum der langen Knochen des Körpers mit sich. Mädchen, die früh in die Pubertät kommen, überragen dann zu Beginn ihre Klassenkameraden, aber enden dennoch als kleine Erwachsene – die Menarche, die erste Menstruation, stoppt das Wachstum der langen Knochen.

Hormone wirken allerdings nie alleine. Wachstumshormone beeinflussen wiederum andere Hormone, die Kalorien verbrennen, Glukose verwerten und sogar Freundschaften regeln. Beste Freundinnen können so plötzlich zu Idiotinnen werden, nicht, weil sie schlechte Menschen sind, sondern weil Östrogen das Wachstum von Rezeptoren für Oxytocin anregt, ein Hormon, das mit sozialer Zugehörigkeit verbunden ist. Mädchen, die in die Pubertät kommen, brauchen plötzlich andere Freundschaften. Das löst oft größere Dramen aus, ist aber doch nur natürlich.

Neue Studien gehen davon aus, dass Mädchen in Europa 9,8 bis 10,9 Jahre alt sind, wenn sie anfangen, Brustgewebe zu entwickeln. In den USA ist das etwas früher, nämlich 8,8 bis 10,3 Jahre. Auf dem afrikanischen Kontinent etwas später, 10,1 bis 13,2 Jahre. Das Alter, in dem ein Kind in die Pubertät kommt, ist aber unterschiedlich. Schließlich ist die Pubertät keine Basecap, one size fits all gibt es nicht. Sie beginnt bei Mädchen im Alter von 10 bis 14 Jahren und bei Jungen im Alter von 12 bis 16 Jahren, wobei einige ethnische Gruppen etwa ein Jahr früher damit beginnen.

Die meisten Experten sind sich einig, dass das Durchschnittsalter bei der Menarche Mitte des 18. Jahrhunderts mit roundabout 17 Jahren einen Höchststand erreichte. In den 1960er Jahren war es auf etwa 12 Jahre gesunken (Ich beziehe mich hier ständig auf Mädchen, weil bei denen der Beginn der Pubertät einfacher festzustellen ist. Bei Jungs müsste man dafür ständig das Wachstum der Hoden kontrollieren. Die Pubertät gilt als eingetreten, wenn die Hodengröße vier Milliliter überschreitet. Aber aus nachvollziehbaren Gründen macht das niemand). So weit, so bekannt. Nun ergeben sich daraus aber zwei Fragen: Erstens, ist das schlimm? Und zweitens, ist das wirklich immer früher?

Eine Sache der Gene

Eigentlich weiß niemand, was die Pubertät überhaupt auslöst. Der Zeitpunkt ihres Beginns wird zu 50 bis 80 Prozent von den Genen gesteuert. Heißt: Er ist einerseits biologisch festgelegt, andererseits aber auch abhängig von einer Reihe von Umweltfaktoren: Übergewicht, Chemikalien, Stress.

Zweifellos hängt das alles mit drin. Aber wie genau alles zusammenhängt? Es gibt keine Möglichkeit, Bewegungsmangel, qualitativ schlechte Nahrung, Umweltgifte und emotionale Überanstrengung voneinander zu trennen. Man müsste Populationen finden, bei denen man über einen längeren Zeitraum Risikofaktoren ausschließen kann; also belastete Populationen von unbelasteten trennen, die über Jahre beobachten und zudem die jeweils anderen Risikofaktoren kontrollieren.

Das mag bei Labormäusen gehen (deswegen habe ich jetzt das Wort "Populationen" benutzt), bei Menschen ist es unmöglich. Dazu kommt, dass die Pubertät, obwohl sie alle betrifft, trotzdem in jedem individuell funktioniert. So gibt es zum Beispiel Studien, die zeigen, dass Mädchen, bei denen der Vater in den Vorschuljahren in die Erziehung eingebunden war, später als der Durchschnitt in die Pubertät kommen.

Gleichzeitig deutet vieles darauf hin, dass schwerer psychosozialer Stress die Fortpflanzungsentwicklung unterdrücken kann, weil sich aus der Unvorhersehbarkeit des Familienlebens die Notwendigkeit ergibt, die Kindheit schnell zu beenden. Andererseits ist das eben auch nicht immer so. Nicht alle gut behüteten Mädchen kommen spät in die Pubertät, nicht alle mit schwerer oder gar schlimmer Kindheit erreichen sie früh. Und diese Unsicherheit gilt auch für den Faktor "Übergewicht".

Blick ins Mittelalter

Fettgewebe ist ein wichtiger Teil unseres Hormonsystems. Es produziert und metabolisiert Hormone. Ein hoher altersspezifischer Body-Mass-Index (BMI) trägt so zum frühen Beginn der Pubertät bei. Dann wird Leptin freigesetzt, ein Hormon, das in den Fettzellen produziert wird und dem Gehirn signalisiert, dass genügend Energiereserven für den Beginn der Fortpflanzungszeit vorhanden sind. Und das gilt auch umgekehrt. Zu wenig Körperfett? Kein Leptin. Aber auch hier gilt, dass Fettgewebe zwar den Zeitpunkt der Pubertät verändert, aber nicht die Varianz erklärt.

Und nochmal schwieriger ist es bei chemischen Einflüssen. Einerseits finden sie sich überall und es ist bekannt, dass sie menschliche Hormone stören können. Auswirkungen von Chemikalien sind allerdings auch sehr komplex. Es kommt auf die Menge an, ihre Wechselwirkung mit anderen Faktoren, auf den Zeitpunkt der Exposition. Obwohl es Indizien gibt: Tatsächlich ist die Datenlage über die Wirkung von Chemikalien im Körper nicht besonders groß.

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Aber um den Beginn der Pubertät herauszufinden, reicht es womöglich nicht, nur in eine Zeit zurückzublicken, in der die Industrielle Revolution schon eingesetzt hatte. Zwar wurde damals mit dem Sammeln von Daten begonnen, die Herausforderungen durch Ernährung, Umweltverschmutzung und Stress waren allerdings ebenfalls sehr hoch.

Eine archäologische Studie der Universität Reading wirft dagegen einen Blick auf das mittelalterliche England. Dabei wurden knapp 1.000 Jugendliche untersucht, die zwischen 900 und 1550 starben. Anhand der Eckzähne, der Form der Hals- und Handgelenksknochen und der Verschmelzung von Ellbogen, Handgelenken, Fingern und Becken konnten dabei die Stadien der Pubertät nachgezeichnet und so auch das durchschnittliche Alter der Kinder ermittelt werden, in dem sie in die Pubertät kamen. Und, Überraschung, es hat sich gar nichts verändert.

Tod vor dem Ende der Pubertät

Das Durchschnittsalter war exakt das gleiche wie bei den meisten Teenagern heute: Zwischen 10 und 12 Jahren. Der Wachstumsschub fand zwischen 11 und 16 Jahren statt, die Menarche zwischen 12 bis 16 Jahren, wobei das Durchschnittsalter bei 15 Jahren lag – das allerdings ist etwas später als heute. Aber genau wie heute gab es innerhalb jeder Phase eine große Altersspanne von Kindern, darunter auch einige frühreife.

Der Unterschied zu heute: Ein knappes Viertel der damals von den Forschern aus Reading untersuchten Verstorbenen hatte die Pubertät nicht abgeschlossen, bevor sie mit Mitte 20 starben – was die Auswirkungen schlechter Umweltbedingungen, wie Armut und mangelhafter Ernährung, Gewalt und harte Arbeit, auf das Tempo der Pubertät belegt. Aber eben nicht auf den Beginn. Denn trotz aller Härten: Die subtileren Veränderungen, die den Beginn der Pubertät signalisieren, traten mit etwa zehn Jahren ein und das ist eben kein Unterschied zu heute.

Und so ist es bei der Pubertät wie so oft: Daten alleine sagen wenig und sind erst im Kontext aussagekräftig. In diesem Fall ist unsere Vorstellung, was das normale Alter ist, in dem ein Kind die Pubertät erreicht, offensichtlich durch die Verwendung von Daten verfälscht, die wir nur haben, weil wir zu einem ganz bestimmten Zeitpunkt mit der Messung und Beobachtung begannen. Dabei scheint das Alter, in dem Kinder tatsächlich in die Pubertät eintreten, unverändert zu sein. Jetzt sind sie halt nur schneller durch.

Und vermutlich ginge das sogar noch schneller, wenn sie nicht nur Toastbrot und Erdnussflips essen würden. Wo ich das gerade schreibe: Haben wir eigentlich noch genug zu Hause?

Die in Gastbeiträgen geäußerten Ansichten geben die Meinung der Autorinnen und Autoren wieder und entsprechen nicht notwendigerweise denen der t-online-Redaktion.

Transparenzhinweis
  • Die Informationen ersetzen keine ärztliche Beratung und dürfen daher nicht zur Selbsttherapie verwendet werden.
Verwendete Quellen
  • Eigene Recherche (englisch)
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