"Militaristische Struktur" TV-Doku: So beutet Netto seine Mitarbeiter aus
Frische, Qualität, eine große Auswahl an Markenartikeln und "Dauer-Tiefpreise": So wirbt der Marken-Discounter Netto und ist damit äußerst erfolgreich. Das Unternehmen wächst kontinuierlich und will langfristig sogar Marktführer werden. Doch der Erfolg des Discounters hat offenbar seinen Preis, den vor allem die Mitarbeiter zahlen, und zwar in Form unbezahlter Überstunden. Das berichtete der SWR am Mittwochabend in seiner Doku "Betrifft: Das System Netto".
Knapp 70.000 Mitarbeiter beschäftigt die Nummer drei unter den deutschen Lebensmittel-Discountern mit seinen über 4150 Filialen. Doch bei Netto zu arbeiten, ist der Doku von Edgar Verheyen zufolge alles andere als erstrebenswert. Über das ganze Land verstreut hat der Autor Mitarbeiter und ehemalige Beschäftigte interviewt und ist dabei auf Arbeitsbedingungen gestoßen, die sich mit dem Begriff Ausbeutung wohl am besten auf den Punkt bringen lassen
Unbezahlte Überstunden, keine Pausen möglich
Denn um seine "Tiefpreise" auf Dauer zu halten, verweigert Netto seinen Mitarbeitern offenbar systematisch die Vergütung von Überstunden. Eine Angestellte aus Berlin, die in der Doku von ihren Erfahrungen berichtet, hat ein Tagebuch über ihre Arbeitsstunden geführt. 7,5 Stunden pro Tag werden ihr bezahlt. Doch die Realität ihres Arbeitsalltags sieht anders aus. Ein bis zwei Mal im Monat komme es vor, dass ihre Schicht von 5.30 bis 22 Uhr geht.
Zwei weitere Beschäftigte aus dem baden-württembergischen Villingen-Schwenningen, die zehn Jahre bei Netto auf dem Buckel haben und wegen zu harter Bedingungen das Unternehmen verließen, berichten von ähnlichen Einsatzzeiten. Schichten von bis zu 13 Stunden seien eher die Regel als die Ausnahme gewesen. Abgegolten wurden die bis zu 80 Überstunden im Monat demnach nur mit einer Pauschale von 150 Euro. Und Pausen beim Job? Die seien wegen der Minimalbesetzung zumeist nicht möglich gewesen.
Aber nicht nur normale Verkäufer, auch die Marktleiter haben an ihrem Netto-Job schwer zu schlucken. Eine ehemalige Mitarbeiterin, die sich von der Verkäuferin bis zur Marktleiterin hochgearbeitet hatte, hat diese Position ebenfalls wegen extremer Überlastung wieder aufgegeben, um in dem Discounter anschließend wieder als Verkäuferin zu arbeiten.
Mehr Personal? "Wirtschaftlich nicht möglich"
Klar, dass Angestellte unter diesen Bedingungen irgendwann nach mehr Personal rufen. Doch da habe es von Unternehmensseite nur geheißen, das dies "wirtschaftlich nicht möglich" sei.
Auf Anfrage von SWR-Autor Verheyen äußerte sich Netto auch zu den nicht - oder nur zu geringfügig - entlohnten Überstunden. "Es gehört zu unseren zentralen Unternehmensvorgaben, dass alle geleisteten Überstunden im Vorfeld abgesprochen sowie genehmigt und entsprechend vergütet werden", antwortete das Unternehmen. Ein Statement, mit dem der Discounter die katastrophalen Personalbedingungen in seinen Märkten womöglich ganz bewusst zu verschleiern sucht.
Selbst Auszubildende werden bei Netto zu einer hohen Zahl von Überstunden genötigt, wie die Doku zeigt. Anrufe in der Berufsschule, dass die Lehrlinge im Anschluss daran in den Markt kommen sollen, sind demnach keine Ausnahme. Auch dass Lehrlinge mit einem 37,5-Stunden-Vertrag für 700 Euro im Monat bis zu 13 Stunden am Tag schuften, gehört bei Netto offenbar zur knallharten Realität.
Auch Steuerzahler müssen herhalten
Dazu kommt, dass der Discounter manchen seiner Azubis nur den Ausbildungsplatz zur Verfügung stellt und die Lehrlinge von der Bundesagentur für Arbeit vermittelt und finanziert werden. Dadurch würden sogar noch die Steuerzahler für das Erfolgssystem Netto herangezogen, wie es in der Doku heißt.
Zu den langen Arbeitszeiten und unbezahlten Überstunden gesellt sich für Netto-Mitarbeiter offenbar auch eine gehörige Portion an Schikane. Denn wenn bei Kontrollen vermeintliche Missstände in den Märkten aufgedeckt werden, ordert der Discounter Beschäftigte gerne mal in die Zentrale bei Regensburg und macht sie dort zur Schnecke, wie ein ehemaliger Marktleiter berichtet. Doch damit nicht genug. Im Fall zu langer krankheitsbedingter Ausfälle sei Mitarbeitern auch schon mal der Urlaub gestrichen worden.
Angesichts solcher Umstände verweist der Volkswirtschafs-Professor Stefan Sell von der Hochschule Koblenz auf eine "militaristische Organisationsstruktur" bei Netto. Das System funktioniere so, dass der Druck durch ein hierarchisches System von ganz oben bis ganz hinunter in die Filialen geleitet wird. In der Folge käme es zu "Verwüstungen" im Sinne von "menschlichem Leid und Ausgebranntheit" der Mitarbeiter.
Nicht die erste Doku über Missstände bei Netto
Umso verblüffender sind die in der Doku erhobenen Vorwürfe, weil der selbe Autor in der ARD-Sendung "Report" vor zwei Jahren schon einmal ähnliche Missstände bei Netto angeprangert hatte. Doch weder dies noch eine Millionenstrafe wegen illegaler Werkverträge, die Netto 2014 berappen musste, scheinen ein grundsätzliches Umdenken in der Personalpolitik des Unternehmens bewirkt zu haben.
In Zeiten des Mindestlohns begibt sich der Discounter zudem rechtlich auf dünnes Eis, falls die in der Doku von 2014 angeprangerte Nichtvergütung von Überstunden bis heute gängige Praxis ist. Für Informationen hierzu war die Presseabteilung des Unternehmens am frühen Mittwochabend telefonisch nicht erreichbar.