Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.
Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.Überraschender Höhenflug Plötzlich ziehen sie links vorbei
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Die Linke erlebt trotz früherer Krisen in den Umfragen einen Aufschwung. Offenheit und geschickte Nutzung sozialer Medien spielen dabei eine zentrale Rolle – und auch Taylor Swift.
Es ist also möglich: Man muss als Partei gar nicht wie das Kaninchen vor der Schlange sitzen und der AfD zuschauen, wie sie in den sozialen Netzwerken absahnt. Und nur für die Statistik halbherzig ein paar eigene Videos hochladen, um sagen zu können: "Guckt mal, wir haben es versucht, aber man kann da ja gar nichts machen! Wir haben zum Äußersten gegriffen, der Olaf hat sogar was mit seiner Aktentasche vor der Kamera veranstaltet – aber es zündet nicht! Der Vorsprung der AfD ist schon viel zu groß! Weil: Als wir hier noch staunend unseren Faxgeräten huldigten, waren die halt einfach schon viel weiter! Schade!"
Nee. So aussichtslos ist es ja gar nicht. Man kann durchaus ohne schmierigen "So sehen echte deutsche Männer aus"-Stuss in den sozialen Netzwerken in Erscheinung treten und Erfolge erzielen. Linken-Spitzenkandidatin Heidi Reichinnek zum Beispiel kann das. Und schafft es auch (!) damit, dass die totgesagte Linke rund doppelt so stark in den Umfragen dasteht wie die FDP.
Aktuell liegt die Linke in einer YouGov-Umfrage bei neun Prozent. Ein Wert, der für die Unionsparteien eine Katastrophe wäre. Der SPD droht, wenn es so weitergeht, vielleicht erst bei der nächsten oder übernächsten Bundestagswahl ein solcher Wert. Für die AfD wäre er eine Halbierung der aktuellen Umfragewerte. Bei der Linken sorgen diese 9 Prozent hingegen für Ekstase. Man sah die überlebenswichtige 5-Prozent-Marke schon von der anderen Seite, und nun das. Und nicht nur das: Wahlkampfveranstaltungen der Linken werden von Menschen dermaßen gut besucht, dass die Zahl die Größe der gebuchten Säle sprengt.
Außerdem meldet die einstige Wagenknecht-Partei auch noch einen neuen Mitgliederrekord – und dass ihr die Mitgliedsausweise ausgehen und man mit dem Drucken gar nicht hinterherkommt. Zusammengefasst hat also ausgerechnet die Partei, die im Wahlkampf mit der griffigen Formel "Es sollte keine Milliardäre geben" antritt, Luxusprobleme.
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Zur Person
Die Fernsehjournalistin Nicole Diekmann kennt man als seriöse Politikberichterstatterin. Ganz anders, nämlich schlagfertig und lustig, erlebt man sie auf Twitter – wo sie über 120.000 Fans hat. Dort filetiert sie politische und gesellschaftliche Aufreger rund ums Internet. Ihr Buch "Die Shitstorm-Republik" ist überall erhältlich. Bei t-online schreibt sie jeden Mittwoch die Kolumne "Im Netz".
Sogar erfolgreicher als Swift
Das hat auch mit der "Taylor Swift der deutschen Politik" zu tun. So nennen Journalistenkollegen Heidi Reichinnek bereits. Nun neigt mein Berufsstand ohnehin zur Überspitzung, und dieser Vergleich ist ein bisschen schief. Denn Taylor Swift ist ja nicht direkt politisch tätig, und Reichinnek hat sich keine Millionen ersungen. Wäre ja auch abgesehen von Talentfragen, die ich nicht beantworten kann, schwierig zu vereinbaren mit der Parteiforderung nach sozialer Umverteilung.
Was aber nicht von der Hand zu weisen ist: Swift nutzt die sozialen Medien für politische Statements, und Reichinnek tut das auch. Und ist dabei, man muss es so sagen, erfolgreicher als Swift. Denn wir erinnern uns: Swift meldete sich im US-Wahlkampf zu Wort. Sehr gespannt hatte die Welt darauf gewartet. Dann kam das inhaltlich zwar originelle, aber nicht sehr überraschende Posting zugunsten von Kamala Harris. Wie erfolgreich die am Ende gegen Donald Trump abschnitt, wissen wir.
Setzen wir das mal in Relation, ist Reichinnek ungemein erfolgreicher als Swift. Neun Prozent in Zeiten, in denen die einstige Parteiikone Sahra Wagenknecht mit dem gleichnamigen Bündnis ein Konkurrenzprodukt auf den Markt geworfen hat und man selbst schon den eigenen politischen Verwesungsgeruch in der Nase hatte. Eben die dann plötzlich so weit vorn zu haben, das ist schon was.
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Digitale Demut kommt an
Reichinnek hat TikTok verstanden. Die Ansprache dort, den Anspruch dort, die Erwartung von den Leuten dort – das alles hat sie kapiert und bedient sie ausgezeichnet. Das Signal an junge Leute lautet wie folgt und ist in seiner Wirkung nicht zu unterschätzen: "Wir sehen Euch, wir machen uns die Mühe, Eure Welt zu verstehen", und ganz wichtig: "Wir maßen uns nicht an, Euch auf Euren Plattformen nun unsere Vorstellung von Kommunikation aufdrücken zu wollen." Digitale Demut. Ein kolossal unterschätzter Faktor in der politischen Kommunikation. Das Naserümpfen über diese jungen Leute und was die auf diesen Plattformen machen, kostet Wählerstimmen und Ansehen.
Insofern macht Heidi Reichinnek alles richtig. Ebenso, und das ist leider auch Teil der Wahrheit, den Trend zur Verflachung politischer Diskurse. Was auf eine Kachel, in eine Minute passt, wird geliebt. Die Simplifizierung von teilweise wirklich komplexen und vielschichtigen Inhalten wirkt dadurch immer mehr als unnötig verstaubtes und aufgrund von Trotteligkeit unnötig umständliches Lavieren. Wie Angst vor klaren Ansagen. Was uns aber viel mehr Angst machen muss: Dass immer mehr Menschen auf jene hereinfallen, die einfache Antworten vorgaukeln. Social Media befeuert diesen falschen Anspruch nicht nur, sondern legitimiert ihn sogar. Und das ist schlecht.
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Nun muss man aber dazu sagen: Es ist trotzdem noch nicht alles Schwarz-Weiß. Ja, junge Leute sind naturgemäß in vielem unerfahrener als wir Älteren. Was auch schön ist; ich möchte in keiner völlig naivitätsfreien Welt leben, in der der Glaube an das Gute und an Wunder komplett abgeschafft wurde durch Menschen wie Wladimir Putin oder Donald Trump. Deshalb aber sind doch junge Leute, Erstwähler zum Beispiel, in ihrer Informationsbeschaffung nicht völlig eindimensional.
Mir geht deshalb die Dissonanz aus dem laut gesungenen Loblied auf den Wahl-O-Maten und der gleichzeitig wehklagend bis abfällig vorgetragenen Jammerei über die Jugend, die sich angeblich ausschließlich über TikTok, Insta oder andere Kanäle über Politik informiert, total auf die Nerven. Bestimmt gibt es Leute, die sich null politisch informieren und zu 100 Prozent auf den Wahl-O-Maten verlassen. Der natürlich komplexer und überhaupt nicht effekthascherisch programmiert ist. Ich finde den gut. Aber: Auch er sollte doch bestenfalls nur ein Puzzleteil sein. Und während wir bei Erwachsenen automatisch davon ausgehen, dass er das bei ihnen ist, unterstellen wir den Jüngeren, sie würden stumpf einmal auf den Algorithmus hereinfallen und dann postwendend ihr Kreuzchen machen. Das ist nicht fair.
Ganz bestimmt ist die Linke nicht nur wegen TikTok wiederauferstanden. Ganz bestimmt hängt das auch damit zusammen, dass Unruhestifterin Wagenknecht weg ist. Und dass sich die Linke Themen wie sozialer Gerechtigkeit annimmt. Des Megathemas Wohnen. Und auch des Themas Migration – und zwar als einzige Partei mit absoluter Offenheit gegenüber Asylsuchenden und Migranten. Ich will das inhaltlich gar nicht bewerten. Es ist schlicht und einfach ein Alleinstellungsmerkmal. Und das zieht. Auch (!) auf TikTok.
- Eigene Meinung