Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.
Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.Merz, Habeck und Özdemir Große Keule, großer Unfug
In einer polarisierten Debattenkultur werden Meinungsäußerungen oft drastisch interpretiert. Polemik und berechtigte Kritik werden zuweilen mit Hass und Hetze gleichgesetzt – mit gefährlichen Konsequenzen.
Die einen werden immer roher, die anderen zu immer roheren Eiern: Zu einer reifen Debattenkultur gehört auch, nicht jedes Mal loszuheulen.
Zur Person
Die Fernsehjournalistin Nicole Diekmann kennt man als seriöse Politikberichterstatterin. Ganz anders, nämlich schlagfertig und lustig, erlebt man sie auf X – wo sie über 120.000 Fans hat. Dort filetiert sie politische und gesellschaftliche Aufreger rund ums Internet. Ihr Buch "Die Shitstorm-Republik" ist überall erhältlich. In ihrem Podcast "Hopeful News" spricht Diekmann jede Woche mit einem Gast über die schönen, hoffnungsvollen – einfach GUTEN Nachrichten. Bei t-online schreibt sie jeden Mittwoch die Kolumne "Im Netz".
Es sind große Keulen, die in diesen Tagen von Friedensbewegten rausgeholt werden: Friedrich Merz ist ein Kinderhasser. Die linke Bubble ist sich einig und auf der Zinne. Warum? Weil Friedrich Merz dies gesagt hat: "Habeck ist Kinderbuchautor. Okay. Ich bin Jurist. Hoffentlich auch okay. Aber uns verbindet eines: Wir haben beide von Technologie keine Ahnung."
Erboste, ein Stück weit auch von dieser harten Welt Enttäuschte kratzen nun all ihre ob dieses Skandals noch verbliebene Energie zusammen. Sie versuchen sich mithilfe von Postings in den sozialen Netzwerken irgendwie wieder zu fangen und gegenseitig zu stabilisieren in ihrem gemeinsamen Zorn. Mit der Bezeichnung Robert Habecks als Kinderbuchautor habe Friedrich Merz sein wahres Gesicht gezeigt, heißt es da. Er habe Habeck verunglimpft – aber auch unter Beweis gestellt, welchen Stellenwert Menschen für ihn haben, die Kinderbücher schreiben. Und, noch schlimmer: Welchen Stellenwert Kinder für ihn haben. Nämlich gar keinen.
Hätte Friedrich Merz vor laufender Kamera Kaspar und Seppel eine Kopfnuss verpasst oder Lassie gegrillt – die Empörung wäre kaum größer.
Es ist Wahlkampf
Nun kann man Merz einen gewissen Hang zum Sich-Vergaloppieren nicht absprechen. Beispiel: Ukrainer kämen nach Deutschland, um sich die Zähne machen zu lassen und uns unsere Zahnarzttermine wegzunehmen. Oder: Ein mindestens seltsam von Merz formulierter Automatismus zwischen Homosexualität und Pädophilie. Das sind nur zwei Fälle, die auch Merz’ Umfeld verzweifeln und sich fragen ließen, ob jemand mit solchen Ausfällen tatsächlich der Mann an der Spitze der CDU und irgendwann auch Kanzlerkandidat sein kann.
Er ist es nun, und er macht Wahlkampf. Mit Betonung auf Kampf. Und sagte in diesem Zusammenhang am Wochenende auf einer Veranstaltung der (seiner) CDU in Nordrhein-Westfalen Folgendes: "Robert Habeck ist Kinderbuchautor. Okay. Ich bin Jurist. Hoffentlich auch okay. Aber uns verbindet eines: Wir haben beide von Technologie keine Ahnung."
Schon mal so was gehört?
So. Stellen wir uns mal ganz dumm und dröseln das auf. Ist Robert Habeck Kinderbuchautor? Ja, ist er. Hat Robert Habeck in Germanistik promoviert? Hat er. Hat Robert Habeck Ahnung von Technologie? Die einen sagen so, die anderen so.
Ist Friedrich Merz Jurist? Ist er. War Friedrich Merz Aufsichtsratsmitglied bei und Lobbyist für Blackrock, den größten (und einen umstrittenen) Vermögensverwalter der Welt? War er. Hat Friedrich Merz mal behauptet, er sei Mittelschicht? Besitzt aber gleichzeitig ein Flugzeug? Auch dies trifft beides zu.
Ich frage weiter: Haben Sie schon mal eine Wahlkampfrede gehört, in der der Redner etwas in der Art sagen würde wie: "Robert Habeck von den Grünen – super Typ! Hat seinen Doktor in Germanistik gemacht, sapperlot! War schon Landesminister – im Gegensatz zu mir. Hat auch anders als ich keine drei Anläufe gebraucht, um Parteichef zu werden. Ein Teufelskerl. Freunde, lasst uns lieber über Robert Habeck reden! Der will ja auch als Kanzlerkandidat antreten, und je länger ich mich reden höre – der kann ja schon auch einiges. Und mit Technologie müsst ihr mir auch nicht kommen, das ist also kein Kriterium!"
Auch die Grünen können austeilen
Natürlich stellt sich Merz in seiner Rede nur scheinbar auf eine Stufe mit dem koketten Kniff, er habe keine Ahnung von Technologie. Natürlich nimmt er diese Aussage gern in Kauf, um den Wirtschaftsminister auf diesem Gebiet anzugreifen. Natürlich lässt er weg. Aber meine Güte, Leute! Wir leben in keiner idealen Welt, und zum Wahlkampf gehört Polemik. Nicht mal nur zum Wahlkampf; das ist politisches Tagesgeschäft. Aber man kann sich doch jetzt nicht allen Ernstes so anstellen, wegen solcher völlig harmlosen Äußerungen.
Dass auch die AfD die Kinderbuchautor-Karte spielt, ist auch mir übrigens nicht entgangen. Nur: Da aber ist Kontext König. Da wird verächtlich gemacht, in Bausch und Bogen verdammt, entmenschlicht und ein neuer Ordnungsrufe-Rekord in den Parlamenten aufgestellt. Von Äußerungen in den sozialen Netzwerken und auf den Marktplätzen wollen wir gar nicht mehr anfangen. Das ist etwas anderes als das, was Merz macht. Austeilen. Was die Grünen auch können. Klar können sie das. Müssen sie auch. Sie sind Politprofis und keine Wattebäusche.
Ironisch, witzig, staubtrocken
Grautöne. Maß und Mitte. Wo sind sie geblieben? Während die Anhängerschaft von Robert Habeck nicht in der Lage ist, Polemik als das, was sie ist, einzuordnen (nämlich Polemik), sondern direkt gleichsetzt mit Hass und Hetze, versucht die andere Seite, Hass und Hetze als Polemik zu verkaufen. Kurz: Die einen benehmen sich wie rohe Eier, und die anderen verrohen immer mehr.
Und damit sind wir wieder bei den Grünen. Ricarda Lang, bis zum nächsten Parteitag noch Co-Vorsitzende, dann aber nicht mehr, ist bei einem wohltuend zu beobachten: Sie hat gerade die Humor-Zeit ihres Lebens. Nachdem sie und Omid Nouripour die Verantwortung für die teils verheerenden Ergebnisse bei den drei Ostwahlen in diesem Jahr übernommen und angekündigt haben, nicht wieder zu kandidieren, postet Ricarda Lang ironisch, witzig, staubtrocken. Man kann dabei zusehen, bilde ich mir ein, wie ihr eine Last von den Schultern fällt. Und ich kann sie so gut verstehen.
Kaum jemand in der deutschen Politik wird von Primitivlingen dermaßen weit unter der Gürtellinie mit Kommentaren und Auffälligkeiten bedacht wie Lang. Nichts von dem, was über Langs Figur in den sozialen Netzwerken in den vergangenen Jahren geschrieben wurde, würde ich hier wiederholen. Sie geht damit bemerkenswert souverän um. Aber natürlich geht das nicht. Das weiß auch Ricarda Lang. Ich kann nur mutmaßen, ob da auch Freude über das absehbare Ende des geballten Hasses aus ihren lustigen Postings spricht. Wäre ich sie, ich würde mich freuen.
Man muss Probleme ansprechen
Und apropos AfD: Dass die Partei den Diskurs über Flucht, Asyl und Migration verschoben hat, bestreitet niemand mehr. Dass der AfD aber auch die Chance dazu gelassen wurde, blenden weiterhin viele aus. Auch diejenigen, die jetzt laut aufheulen und Cem Özdemir in die rechte Ecke rücken, weil der in der "FAZ" schreibt, dass seine Tochter von Menschen mit Migrationshintergrund "unangenehm begafft oder sexualisiert" werde. Und damit den Zusammenhang zum Frauenbild im Islam herstellt. Er thematisiert, dass Integration in vielen Fällen nicht gelungen ist. Im selben Text schreibt er übrigens auch über Rassismuserfahrungen seiner Tochter.
Das muss man ansprechen. Um Lösungen zu finden, die nicht als "Abschieben"-Parole auf Parteipartys gegrölt werden. Wenn das Ansprechen, das Thematisieren selbst aber dazu führt, aus dem Stand vom grünen Realo zum Nazi herabklassifiziert zu werden, und zwar aus den eigenen Reihen, dann spricht man es womöglich irgendwann nicht mehr an. Dann ist keine erwachsene Debatte möglich.
Und dann profitieren die, die babyleichte Antworten geben. Antworten, die zwar keine Lösungen herbeiführen. Aber Erlösung. Nämlich von der Komplexität unserer Welt. Die eben nicht schwarz-weiß ist.
- Eigene Meinung