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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Nach Wechsel von Pinar Atalay Laufen der ARD jetzt die Frauen weg?
Erst im April gab Linda Zervakis ihren Abschied von der ARD bekannt. Nicht einmal zwei Monate später folgt Pinar Atalay. Der ARD, so scheint es, laufen die Frauen davon. Aber woran liegt das?
Acht Jahre lang war Linda Zervakis Gesicht der "Tagesschau". Fast ebenso lang präsentierte Pinar Atalay die "Tagesthemen". Beide sagten der ARD Lebewohl und unterschrieben stattdessen bei Privatsendern.
Zervakis stand bereits für ProSieben vor der Kamera, gemeinsam mit Matthias Opdenhövel leitet sie bald eine wöchentliche Infotainment-Show. "Zervakis & Opdenhövel. Live" will dem TV-Publikum Reportagen und Interviews mit aktuellen, relevanten, nachhaltigen und unterhaltsamen Themen bieten.
Auch Pinar Atalay will offenbar mehr. Zum 1. August wechselt sie zu RTL und wird dort nach Senderangaben den "Ausbau der Informations- und Nachrichtenangebote in zentraler Rolle mitgestalten". Eigenen Aussagen zufolge möchte Atalay "mit meiner Erfahrung als TV-Journalistin und Moderatorin dem steigenden Informationsbedürfnis der Zuschauer:innen gerecht werden, mit Qualitätsjournalismus, der für die Gesellschaft unabdingbar ist."
Zervakis und Atalay haben sich nicht gegen die ARD entschieden
Gab es für die 43-Jährige in der ARD keine Möglichkeit das zu tun? Hat die ARD kein Interesse, Frauen wie Atalay und Zervakis zu halten? Medienexperte Jo Groebel sieht das anders. Der Weggang der beiden Journalistinnen sei weniger als Entscheidung gegen die ARD, sondern vielmehr als eine Wahl für die privaten Sender zu bewerten. "Wir sehen im Moment, dass RTL und ProSieben dabei sind, ein massives Upgrading vorzunehmen", erklärt er im Gespräch mit t-online.
Besonders RTL sei lange Zeit ein Sender für bestenfalls gute Unterhaltung und schlimmstenfalls Trash gewesen. Man sehe nun allerdings ganz deutlich die Neuausrichtung. Auch mit Jan Hofer, den sich RTL vor Kurzem ebenfalls sicherte, wurde deutlich, wo der Sender hinwill.
Seriosität heißt mittlerweile mindestens genauso sehr Frau wie Mann
Das vermehrt gerade Frauen die ARD verlassen, sei logisch, naheliegend und ein gutes Zeichen. Es verdeutliche, dass Frauen mittlerweile auch im Bereich der seriösen Nachrichten und Informationen endgültig auf Augenhöhe angesehen werden und Markenzeichen sind.
Von einer Flucht der Frauen könne keine Rede sein. Die privaten Sender seien nur diejenigen, die wohl ein sehr gutes Angebot gemacht haben werden, bei dem die Öffentlich-Rechtlichen nicht mithalten können. "Die ARD ist eingebettet in den öffentlich rechtlichen Kontext, auch was die Finanzen betrifft", so Groebel. "Die Privaten haben mehr Möglichkeiten und Freiheitsgrade als die Öffentlich-Rechtlichen."
Hätten die Öffentlich-Rechtlichen die Frauen nicht ziehen lassen, wäre es zudem vermutlich zum Skandal gekommen, wenn man einzelnen eine so hohe Summe zahlen würde, vermutet der Medienexperte.
Bei Zervakis und Atalay handele es sich außerdem nur um zwei individuelle Beispiele. "Als Wissenschaftler achtet man sehr darauf, nicht aus Einzelbeispielen eine Generalisierung zu machen, auch wenn es augenscheinlich dafür zu sprechen scheint." Dass in der Vergangenheit ARD-Gesichter von Öffentlich-Rechtlichen abgeworben wurden, ist nicht neu. Günther Jauch zum Beispiel wechselte Anfang der Neunzigerjahre nach acht Jahren beim Öffentlich-Rechtlichen zu RTL, ist bis heute Gesicht des Senders. Auch vonseiten der ARD wird t-online eine hohe Fluktuation bestätigt, der Wechsel zwischen den Sendern sei "normal".
Im Bereich der Informationssendungen sind Frauen in der ARD gut repräsentiert. Anne Will, Sandra Maischberger oder auch Maybrit Illner im ZDF, sie alle zeigen, wie prominent besetzt Frauen im Bereich der Meinungsbildung sind. Eine Frauenunterrepräsentanz gibt es aber sehr wohl. Das räumt auch Groebel ein. Und zwar im Bereich der Unterhaltung.
Im Bereich Unterhaltungsshows fehlt es dennoch an Frauen
Schaut man sich zum Beispiel die Quizformate an, begrüßen einen bei "Wer weiß denn sowas?" täglich Kai Pflaume, Elton und Bernhard Hoëcker. Alexander Bommes führt durch "Gefragt, gejagt" und irgendwo findet man mit ziemlich hoher Wahrscheinlichkeit auch immer ein Quiz in unterschiedlichster Form mit Jörg Pilawa oder Eckhard von Hirschhausen.
Füllende Abendshows werden in der ARD auch vornehmlich von Männern präsentiert. Da springen dann schon eben genannte multifunktionale Quizshow-Moderatoren ein, auch für Thomas Gottschalk findet sich schnell ein geeigneter Rahmen, wenn es denn sein soll. Frauen dagegen sieht man in solchen Positionen seltener. Jährlich darf Barbara Schöneberger durch den Vorentscheid zum ESC führen, aber dann wird es auch schon schwieriger eine Vertreterin des weiblichen Geschlechts zu finden.
Das merkte auch schon der damalige ARD-Programmdirektor Volker Herres an. Sein Dilemma schilderte er damals im Interview mit der "Bild"-Zeitung: "Mir fällt aktuell kein weibliches Pendant etwa zu einem Kai Pflaume ein, der die große Samstagabend-Show moderiert und mit seiner Empathie und Zugewandtheit so große Mehrheiten für sich begeistert. Wir schauen intensiv, wir sind ja sehr viele in der ARD. Aber bisher hat sich niemand aufgedrängt." Herres wurde mittlerweile, wie treffend, von einer Frau abgelöst. Seit Mai übernimmt Christine Strobl die Programmdirektion.
Heute zeigt man sich jedenfalls betrübt über den Weggang der bald schon ehemaligen "Tagesthemen"-Frau. "Die persönliche Entscheidung von Pinar Atalay, zu RTL zu wechseln, bedaure ich sehr", ließ ARD-Chefredakteur Oliver Köhr auf Nachfrage von t-online verlauten. "Als Moderatorin unter anderem für die "Tagesthemen" wie auch als Kollegin habe ich sie immer geschätzt und wünsche ihr viel Erfolg bei ihrem neuen Arbeitgeber."
ARD machte Atalay und Zervakis zu Markengesichtern
Mit fehlender weiblicher Präsenz in Unterhaltungsshows steht die ARD übrigens nicht allein da, sondern reiht sich in eine traurige Riege ein. Auch im Privatfernsehen setzt man bei den ganz großen Shows gern auf Männer. Was man der ARD anrechnen muss, dass sie eben Frauen wie Zervakis und Atalay ins Fernsehen gebracht und zu starken Markengesichtern aufgebaut haben. So, dass eben auch die Konkurrenz nach ihnen verlangt.
"Wir bedauern die Abgänge sehr", erklärte darüber hinaus ARD-Sprecherin Gabriele Müller. Gleichzeitig habe man aber auch "Zugänge zu verzeichnen – eine gewisse Fluktuation ist normal. Jüngst wurden im Übrigen zwei Toppositionen in der ARD mit Frauen besetzt." Dabei handelt es sich um BR-Intendantin Katja Wildermuth und die bereits erwähnte Programmdirektorin Christine Strobl.
- Eigene Recherche
- Interview mit Medienpsychologe Jo Groebel
- Anfrage an die ARD
- Pressemitteilung RTL
- Bild.de: Interview mit Programmdirektor Volker Herres