Auf der Flucht Perfide Menschenjagd im Berliner "Tatort" hielt Zuschauer in Atem
Die Szene ist kaum zu ertragen: In einer Badewanne wird ein junges, bewusstloses Mädchen regelrecht geschlachtet. Der Schatz, an den die Verbrecher gelangen wollen, befindet sich in ihrem Bauch, und zwar in Form von kleinen Drogenbeutelchen. Weil einer dieser Beutel geplatzt ist, liegt die junge Frau im Koma und kann den Rest nicht mehr auf herkömmliche Weise abführen. Darum machen die Herren Gangster kurzen Prozess. Der Berliner "Tatort: Das Muli" schonte die Zuschauer nicht und sorgte für knallharte Krimi-Action.
Das neue Ermittler-Team aus der Hauptstadt feierte einen fulminanten Einstand: Die Hauptkommissare Nina Rubin (Meret Becker) und Robert Karow (Mark Waschke) bekamen es gleich mit brutalem Mord, spannungsreicher Menschenjagd quer durch die Hauptstadt und skrupellosem Drogenhandel zu tun. Aber der Reihe nach.
Nina Rubin - Kommissarin mit Berliner Herz und Schnauze
Natürlich mussten sich die Neulinge erst einmal gehörig beschnuppern und gingen dann keineswegs mit offenen Armen aufeinander zu. Wer wurde uns präsentiert? Nina Rubin, seit sechs Jahren bei der Berliner Mordkommission, ist eine Berlinerin mit Herz und Schnauze. Sie spricht die Sprache der Menschen auf der Straße und kann sich gut in ihr Gegenüber hinein fühlen. Sie ist verheiratet mit Viktor Rubin, einem Arzt. Ihm zuliebe ist sie zum jüdischen Glauben konvertiert. Mit den gemeinsamen Söhnen Tolja und Kaleb leben die Rubins mitten in Kreuzberg. Weil Nina sich ab und zu intensiv im Berliner Nachtleben austoben muss, führen sie und Viktor eine offene Beziehung, die für Viktor jedoch immer untragbarer wird. Gleich in dieser ersten Episode zieht er aus.
Robert Karow - Polizist mit geheimnisvoller Vergangenheit
Robert Karow dagegen ist Single. Er wechselte vom Drogendezernat zur Mordkommission, ist aus Ninas Sicht also der Neue. Er zeigt sich unbeeindruckt von den anderen Kollegen, lässt Hospitanten und Praktikanten seine Geringschätzung spüren und verblüfft sie gleichzeitig durch sein schnelles, logisches Denken. Seine Vergangenheit bleibt so rätselhaft, dass Nina heimlich Informationen über Karow einholt und erfährt, dass sein ehemaliger Partner bei einem Einsatz ums Leben kam und Karow zahlreiche Beziehungen zur Berliner Unterwelt pflegt. Ist er in Wahrheit ihr Gegenspieler? Neben dem eigentlichen Fall entspann sich hier ein weiterer Handlungsstrang, der erst in den nächsten Folgen seine Auflösung finden soll.
Der erste Fall: ein abscheuliches Verbrechen
In "Das Muli" ging es dann gleich um Drogenhandel der perfidesten Art: "Wir haben es hier mit dem Mord an einem sogenannten Muli zu und, also einer Frau, die Kokain in ihrem Magen und Darm transportiert", klärte Karow seine Mitarbeiter auf. Doch nicht nur das Mordopfer war ein Muli, sondern auch die Jugendliche Jo (Emma Bading), die - den Bauch voller Drogen - gemeinsam mit ihrem Bruder Ronny (Theo Trebs) durch die Stadt jagte und sich schließlich in einem ungenutzten Hotel am Berliner Flughafen BER versteckt hielt, damit die Drogenbosse mit ihr nicht dieselbe blutige Prozedur durchführen konnten wie mit ihrer Freundin.
Kriminalistischer Weitwurf
Den kriminalistischen Wettlauf gegen die Zeit inszenierte Regisseur und Grimme-Preisträger Stephan Wagner, der schon mit der Berliner Episode "Gegen den Kopf" für Aufsehen sorgte, gemeinsam mit Drehbuchautor Stefan Kolditz in atemberaubendem Tempo. "Wir möchten Berlin als extrem vielschichtige Metropole in der Mitte Europas darstellen, in der sich viele Probleme bündeln", so Kolditz. Die Absicht, Berlin als Hauptrolle in den Krimi hineinzuholen, ist geglückt. Nur selten sah man Rubin und Karow am Schreibtisch im Präsidium, viel mehr führte sie der Fall in die verschiedensten Berliner Ecken, die Stadt mit all ihren Abgründen zwang sie, hinauszugehen.
In den ersten 15 Minuten wurde der Zuschauer an über zehn verschiedene Spielorte geführt, Dialog fand kaum statt. Einstieg am Ku'damm bei Nacht, Disko, Erziehungsheim, der Morgen dämmert, verlassener Vergnügungspark am Wasser, blutiges Badezimmer, Wohnung in Kreuzberg. Eile, Tempo, ein Stakkato der Bilder und Töne wurde auf den Zuschauer losgelassen. Regisseur Wagner wollte "realistisch und drastisch, am Puls der Stadt" erzählen. Das hat funktioniert.
Neu: Privatleben der Kommissare wird groß geschrieben
Während die bisherigen Beamten aus Berlin - Till Ritter und Felix Stark - privat nahezu unbehelligt blieben, werden Karow und Rubin auch im normalen Leben gezeigt. Karows Alltag neben dem Job bleibt in "Das Muli" zwar noch nebulös, dafür wird Nina Rubin ganz nahe herangeholt. Eheprobleme, halbwüchsige Kinder, die Affäre mit einem Kollegen und individueller Freiheitsdrang: Auch das brachten Wagner und Kolditz im "Tatort" noch unter. Dieser Erzählstrang passte sich gut an die kriminalistische Untersuchung an und man hatte nie das Gefühl, jetzt aus Versehen in einer Familiendoku mitten aus dem Kreuzberger Kiez gelandet zu sein.
Fazit: spannend, innovativ, künstlerisch hochwertig
Mit der schnellen, dicht inszenierten und gut durchdachten Story haben die "Tatort"-Macher bei "Das Muli" alles richtig gemacht. Ausgeführt von den darstellerisch sehr gut aufgelegten Mark Waschke und Meret Becker, aber auch den Nachwuchsstars Theo Trebs und Emma Bading gelang ein spannender, künstlerisch hochwertiger Krimi, der die Niveau-Latte weit oben aufhängt. Ob Tempo und innovative Inszenierung auch beim nächsten Fall beibehalten werden können, bleibt abzuwarten. Die Feuerprobe haben die Berliner jedenfalls glänzend bestanden.