König der Widersprüche Harry redet sich um Kopf und Kragen
Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.
Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.Sein erstes Interview in Vorbereitung auf die Buchveröffentlichung belegt Harrys größten Irrtum. Denn er nennt eine "Lebensaufgabe", die aussichtslos erscheint.
Harry wirkt gefasst, kontrolliert, geradezu abgeklärt. Der Sender ITV zeigt an diesem Sonntagabend im britischen Fernsehen das 90-minütige Gesprächsformat "Harry: The Interview". Der Prinz hat dafür in sein Exil geladen, der Journalist Tom Bradby begegnet ihm in einer seltsam altbacken arrangierten Stube in Kalifornien – und trifft dabei auf einen Mann voller Widersprüche.
Gesprächsanlass sind die Memoiren Harrys. Am Dienstag werden sie in Deutschland unter dem Titel "Reserve" erscheinen. In dem Fernsehinterview wird immer wieder daraus zitiert, emotionale bis erschütternde Details werden vorgetragen: William habe seinen jüngeren Bruder niedergeschlagen, Charles sei an der Rolle des alleinerziehenden Vaters gescheitert, Kate habe Meghan zum Weinen gebracht, Mitglieder der Königsfamilie legen sich "mit dem Teufel ins Bett", so Harry.
All das überrascht aber nicht mehr. Seit Tagen sickern Geschichten aus der rund 500 Seiten starken Autobiografie an die Öffentlichkeit. Was hingegen erstaunt, ist die Tatsache, dass Harry offenbar an einer angemessenen Selbstwahrnehmung scheitert. Er will sich versöhnen und greift die eigene Familie an. Er bezeichnet sich als "glücklich wie nie zuvor" und wirkt wie ein Häufchen Elend. Er möchte Frieden, aber erklärt der Presse den Krieg.
Harry scheitert daran, Widersprüche aufzulösen
Nach dem Gespräch muss man konstatieren: Harry redet sich um Kopf und Kragen. Das, was er vorgibt, damit zu bezwecken, wird er so nicht erreichen. "Frieden gibt es nur, wenn es Wahrheit gibt", sagt er gegen Ende der Sendung, um kaum zwei Minuten später zuzugeben, dass es immer nur einen Teil der Wahrheit geben könne. Er liefere nun seine Sicht der Dinge. Womit eine der auffälligsten Ungereimtheiten Harrys klar wird: Dieser Mann beklagt den Angriff auf seine Privatsphäre – und zieht nun in aller Öffentlichkeit blank. In seinen Memoiren – und in drei begleitenden Interviews.
Nicht zu vergessen die unzähligen Male, in denen er und Meghan zuletzt öffentlich in Erscheinung traten: "Harry & Meghan", das Netflix-Special. Meghans Spotify-Podcast "Archewell", das Gespräch mit US-Moderatorin Oprah Winfrey, Harrys anderthalbstündiges Podcast-Interview mit dem Schauspieler Dax Shepard.
Harry versucht, diesen offensichtlichen Widerspruch aufzulösen. Wenn doch schon so viel von außen über ihn und seine Frau Meghan geschrieben werde, dann sei es nun an der Zeit, die eigene Geschichte selbst zu erzählen. Das ist richtig, es ist auch legitim – aber es ist deshalb nicht weniger naiv. Denn erstens hört er gar nicht mehr auf, Gelegenheiten dafür zu finden und zweitens wird er dabei privater denn je.
Oder kennen Sie die Geschichte von Beyoncés erstem Mal? Wissen Sie mehr über David Beckhams Sex-Erfahrungen? Nein? Die Geschichte, wie sich ein damals 17-jähriger Harry beim ersten Sex als "junger Zuchthengst" fühlte, dafür schon. Harry packt über intime Details aus, teils mit schonungsloser Offenheit. Leser seines Buches werden erfahren, wie er sich vor dem ersten Treffen mit Meghan "eingenässt" hat – buchstäblich. Drogenexzesse, private Gespräche, Therapien, Trauer, Traumata: alles enthalten.
Aber eben nicht nur das: Er zieht seinen Bruder mit hinein in diesen Strudel der Seelenschau und des Privatsphären-Striptease. William sei beschnitten, attackierte ihn mehrmals handgreiflich, habe sich nicht unter Kontrolle. Hat er seinen Bruder um Erlaubnis gebeten? Oder kopiert Harry hier einen Stil, den er in steter Regelmäßigkeit der Boulevardpresse vorwirft? Eine seltsame Doppelmoral tritt zutage, die man dem Prinzen und seinem so souverän anmutenden Auftreten gar nicht zutrauen würde.
"Es ist schädlich für William"
"Ich möchte sie nicht verletzten", sagt Harry in Richtung seiner Familie. "Ich möchte meinen Vater zurück. Ich möchte meinen Bruder zurück", versichert er dem Interviewer. Doch Tom Bradby weist ihn zurecht, sagt: "Es ist schädlich für William", es sei "schmerzhaft", was Harry sage. Wie soll es Versöhnung geben, wenn die Attacken nicht aufhörten?
Harry ist sich sicher: "Vergebung ist immer möglich", er glaube weiterhin daran. Das Problem sei nicht er, der nun privateste Dinge ausplaudere, es sei das "ohrenbetäubende Schweigen" des Königshauses. Harry kritisiert die Strategie seiner Familie, Geschichten und Narrative in den britischen Boulevardmedien zu platzieren. Wenn "royale Insiderquellen" zitiert würden, kämen diese Informationen vom Palast. Korrespondenten würden damit gefüttert. Meghan und er seien die Leidtragenden.
Doch dabei vergisst Harry nur allzu gerne, dass auch über Charles' "Wurstfinger" diffamierende Berichte in der britischen Presse stehen, Williams "Jähzorn" und überbordendes Temperament thematisiert werden, wenn Videos von ihm auftauchen, wie er gegen einen Fotografen wettert. Kates kostspielige Garderobe angeprangert wird. Der Boulevard in Großbritannien ist seit jeher gnadenlos. Nicht nur Harry leidet darunter.
Der heutige König Charles III. soll seinen Söhnen daher nach dem tragischen Tod von Diana im Jahr 1997 – Harry war 12, William 14 Jahre alt – eingebläut haben: Ignoriert die Schmutzblätter einfach, lest sie erst gar nicht, das mache es nur noch schlimmer.
Harrys Motto? Reden ist Silber statt Schweigen ist Gold
Was Harry nun tut, ist das Gegenteil davon. Mit jeder privaten Umdrehung, die er in Memoiren und Interviews vollzieht, macht er es schlimmer, wird mehr und mehr zum "Freiwild", das er beklagt zu sein. Er macht sich angreifbar, weil er eine bis auf die intimsten Zonen entblößte Zielscheibe geworden ist. Warum sollte die Presse in Zukunft vor dem Prinzen zurückschrecken, wenn er doch selbst zu Privatestem bereit ist? Er wird zu Prinz Streisand, benannt nach dem berühmten Streisand-Effekt, der eintritt, wenn man unliebsame Information unterdrücken will – und dabei genau das Gegenteil erreicht.
Es ist eine verhängnisvolle Sackgasse, in die sich Harry manövriert hat. Von hinten das Blitzlichtgewitter, die sensationsgierigen Reporter, der Boulevard, der den Prinzen ohne Rücksichtnahme weiter aus allen Blickwinkeln beleuchten wird. Vor ihm nur noch eine Mauer des Schweigens, denn der Palast wird weiter eisern an seinem Credo festhalten und sich weder beschweren noch etwas erklären.
Umso fataler ist es, dass Harry dieses Motto kennt und weiter schießt, immer weiter. Obwohl ihm bewusst ist, dass die königliche Familie keine noch so aufsehenerregende Enthüllung, keine Interna, pikanten Geheimnisse oder Indiskretionen kommentieren wird. Weder über sich, die Königsfamilie noch über Harry, den um Privatsphäre bittenden Palast-Flüchtling, der nun für sich das Motto "Reden ist Silber" auserkoren hat. Er spricht von einer "Lebensaufgabe", die Presse auf diese Art verändern zu wollen und man möchte ihm zurufen, wie aussichtslos diese Strategie erscheint – und welch verheerenden Effekt sie mit sich bringt.
- ITV: "Harry: The Interview" am 8. Januar 2023