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Stuckrad-Barre, Springer und "die Wahrheit": Mehr Enthüllungen bitte!


Meinung
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Ganz schön heikel
Diese Diskussionen sind so absurd wie amüsant

  • Steven Sowa
MeinungVon Steven Sowa

23.04.2023Lesedauer: 3 Min.
Einst Männerfreunde: Springer-CEO Mathias Döpfner (l.) und der Ex-Chefredakteur der BILD, Julian Reichelt.Vergrößern des Bildes
Einst Männerfreunde: Springer-CEO Mathias Döpfner (l.) und der Ex-Chefredakteur der "Bild", Julian Reichelt. (Quelle: Malte Ossowski/SVEN SIMON)
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Was ist ein Enthüllungsroman? Lässt er die Hülle fallen und entblößt sich als reiner Papierstapel, wenn man auf seinen Buchdeckel klopft – oder steckt mehr dahinter?

"Sie fragen sich, ob die Geschichte wahr ist?" Ich mich nicht. Auch wenn ich großer Fan der US-Mystery-Serie "X-Factor" bin und bis heute heimlicher Verehrer von Jonathan Frakes. Aber dessen GLANZZEIT liegt bereits 20 Jahre zurück. Huch, da bin ich wohl auf der Feststelltaste ausgerutscht. Beim Gedanken an den Mann, der hier eigentlich Thema werden soll, sind die Großbuchstaben mit mir durchgegangen.

Natürlich ist von Benjamin von Stuckrad-Barre die Rede, dem neuen Jonathan Frakes. Nur dass Stuckrad-Barre mehr raucht und von weniger schummrigem Kunstlicht umgeben ist. Er sitzt weder mit halber Pobacke AUF dem Schreibtisch noch überhaupt daran. Schließlich hat er seinen neuen Roman "Noch wach?" am Strand der Seychellen geschrieben. Von dort, so erklärt er, lasse sich Berlin besser beschreiben.

"Warum schreibt der Autor manche Wörter groß?"

Wobei wir jetzt genau hinschauen müssen. BERLIN? Oder Berlin? Mathias Döpfner? Oder nur ein Freund? Julian Reichelt? Oder nur ein x-beliebiger kokssüchtiger, sexbesoffener Ex-Kriegsreporter-Knallkopf mit wirrem Weltbild und zu weit aufgeknöpftem Hemd? Die Medienwelt ist seit Erscheinen des Stuckrad-Barre-Werkes nur mit einer Frage beschäftigt: Wie viel Wahrheit steckt in den 384 Seiten? Erst dann folgen Fragen wie "Warum schreibt der Autor manche Wörter groß?" und "Wie reich wird ihn das Gewese um diesen Nicht-Nein-Auf-Keinen-Fall-Enthüllungsroman wohl machen?".

Diese Diskussionen sind so absurd wie amüsant. NATÜRLICH ist der Roman kein Sachbuch. Steht ja in gelben Großbuchstaben extra "ROMAN" auf dem Cover. Aber die Werbung für sein Buch, die mit der Frage einhergeht, wie viel Stuckrad-Barre in "Noch wach?" über den Axel-Springer-Konzern erzählt, nimmt der Autor trotzdem gerne mit. Wieso sollten er und sein Verlag sonst vor Veröffentlichung so ein Geheimnis um das Werk gemacht haben? Das Bernsteinzimmer ist jedenfalls beim Durchblättern nicht aus dem Buch gepurzelt – das kann schon mal nicht der Grund für die staatsgeheimnishafte Hochsicherheitsbehandlung gewesen sein.

Es ist ein bisschen so wie bei dem alten Spruch, den es in unterschiedlichen Ausführungen gibt, der aber meist so daherkommt: Es ist groß und grau und hat einen Rüssel. Aber alle Ähnlichkeiten mit einem Elefanten sind rein zufällig. Und dass der Elefant im Raum den Namen Mathias Döpfner trägt und dessen Rüssel bis in die Chefredaktion von "Bild" reicht und dort dem Julian FDP-Nachrichten diktieren konnte, DAS ist natürlich eine besonders komische Volte in der von Zufällen reich geprägten Gesamtfiktion.

Kunst ist immer Wirklichkeit und Fiktion zugleich

Es ist jedenfalls egal, wie WAHR der Roman ist, wie viel oder wenig er enthüllt oder welche realen Ereignisse den Autor zu einer verfremdeten Fiktion inspiriert haben. Literatur entsteht nie im luftleeren Raum, sie ist immer Teil der Wirklichkeit, sie speist ihre kreative Kraft NATÜRLICH aus der Welt, die uns – oder in dem Fall: den Autor – umgibt.

Entscheidend ist nur, was wir daraus machen. Manche mögen die 384 Seiten amüsiert lesen, sich gut unterhalten fühlen, das gute Teil zurück ins Regal stellen und einstauben lassen, wie seine 127 Buchnachbarn drumherum. Andere werfen es nach den ersten drei GROßGESCHRIEBENEN WÖRTERN in die Ecke und halten es für eine dieser aufgedonnerten bis überzogenen Popliteraturwerke, die sie als neumodisch und zugleich altklug abtun.

Andere werden das Beschriebene zu nutzen wissen und der Wahrheit auf den Grund gehen. Denn wie das so ist mit LITERATUR: Sie kann alles sein, nur kein Journalismus. Und den braucht es in #MeToo-Fällen immer noch. Auch sechs Jahre nach den Weinstein-ENTHÜLLUNGEN oder fünf Jahre nach den hierzulande geführten Diskussionen um Dieter Wedel. Ob Döpfner, Reichelt, Axel Springer, Max Mustermann oder sonst wer: Romane werden ihnen nichts anhaben können, sie sind weder mit klarer Beweisführung aufgeschrieben noch ein Gerichtsprozess in schöner Sprache. Sie sind im besten Fall nur eines: DER ANFANG.

"Ich will deinen Körper spüren" ist so eine Frage

Macht und Männer müssen sich in Acht nehmen, Schurken Angst haben. Das kann auch Kunst verdeutlichen, ob auf der Bühne oder in Buchform. Niemand klopft auf Romandeckel, um an Erkenntnisse zu gelangen, in der stillen Hoffnung, es falle ein gerichtsfestes Beweisstück dabei heraus. Aber, um mal literarisch-kunstvoll den Schlusstenor einzuleiten, an der Haustür kann es jederzeit pochen – und es könnten unangenehme Fragen gestellt werden. "Haben Sie Frauen nachts Nachrichten wie 'Ich will deinen Körper spüren' geschickt?", ist zum Beispiel so eine Frage.

"Sie denken, diese Geschichte ist wahr? Dann muss ich sie leider enttäuschen – sie ist frei erfunden", würde Jonathan Frakes jetzt sagen. Oder müsste es an dieser Stelle heißen: "Haben sie gedacht, diese Geschichte sei gelogen? Da muss ich Sie leider enttäuschen." Das, verehrtes Publikum, ist ganz ihrer Fantasie überlassen.

Verwendete Quellen
  • "Noch wach?" von Benjamin von Stuckrad-Barre, erschienen am 19. April 2023 bei Kiepenheuer&Witsch
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