t-online beim Prozessauftakt Warum Harvey Weinstein vor Gericht in Lachen ausbrach
Seit Montag muss sich der ehemalige Filmmogul in Kalifornien den Vorwürfen sexuellen Missbrauchs stellen. t-online berichtet aus dem Verhandlungssaal.
Es ist sechs Uhr morgens in Los Angeles. Die Sonne geht erst in einer Stunde auf, doch vor dem Eingang des Superior Courts in Downtown steht bereits eine Schlange. Journalisten, die einen der größten Prozesse der Hollywood-Geschichte begleiten wollen: Harvey Weinstein steht seit Montag vor Gericht, um sich auch nach kalifornischem Recht zu verantworten. In New York war der ehemalige Filmmogul bereits 2020 zu 23 Jahren Haft verurteilt worden, die er aktuell absitzt.
Insgesamt hatten mehr als 80 Frauen Weinstein in den vergangenen Jahren sexuelle Übergriffe, Missbrauch und Vergewaltigung vorgeworfen – viele davon in seiner ehemaligen Wirkungsstätte. Frauen, für die die Traumfabrik Hollywood laut eigener Aussage zum Albtraum wurde, weil sie dem damals mächtigsten Mann der Industrie vertrauten. Vier von ihnen treten ihm während der Verhandlung erstmals wieder gegenüber, um ihre Geschichte zu erzählen.
Harvey Weinstein – ein Schatten seiner selbst
Nur elf Journalisten dürfen in den Saal, darunter t-online. Die Regeln sind strikt: keine Handys, keine Kameras, keine Aufnahmegeräte. Nur Block und Stift sind erlaubt. Wer dagegen verstößt, fliegt raus. Raum 110 im neunten Stock des "Clara Shortridge Foltz Criminal Justice Centers" ist klein für einen Prozess, dem weltweit so große Aufmerksamkeit zuteilwird. Die Holzvertäfelung wirkt beengend, es gibt keine Fenster, grelle Neonröhren tauchen alles in kaltes Licht.
Rund 30 Menschen haben auf den langen Holzbänken Platz genommen. Neben der Presse sind ein paar wenige Zuschauer erlaubt. Auch angebliche Opfer Weinsteins, die nicht öffentlich gegen ihn aussagen werden, befinden sich darunter. An ihrer Seite sitzt Anwältin Gloria Allred. Eine Legende in Hollywood, die bereits Frauen bei Missbrauchsvorwürfen gegen Roman Polanski, Bill Cosby oder Donald Trump repräsentierte. Auch in diesen Fall ist sie involviert, am Montag aber nur zur Unterstützung im Saal.
Als sich um 9:59 Uhr die Seitentür öffnet, durch die der Angeklagte eintritt, legt sie ihrer Sitznachbarin bestärkend eine Hand auf die Schulter. Dann erscheint er: Harvey Weinstein wird im Rollstuhl in den Saal geschoben. Der einst mächtigste Mann Hollywoods ist nur noch ein Schatten seiner selbst. Blass, mit schütterem Haar und deutlich mitgenommen kommt er nur schwer auf die Beine. Der 70-Jährige muss sich am Tisch festhalten, um auf einem Stuhl neben seinen Anwälten Platz nehmen zu können.
Der Anzug, der ihm nur wenige Minuten vor der Verhandlung gebracht wurde, um die Häftlingsuniform abzustreifen, ist schlicht dunkel. Dazu trägt Weinstein ein weißes Hemd und eine blaue Krawatte. Er lässt seine Augen durch den Saal wandern. Sein Blick ist noch immer stechend und erinnert trotz der körperlichen Veränderung an den einst so selbstbewussten Macher, dem Hollywood zu Füßen lag. Der Karrieren wie die von Ben Affleck, Matt Damon oder Quentin Tarantino formte.
Prominenter Name im Prozess
Diese Macht sei es auch gewesen, die seine angeblichen Opfer so lange schweigen ließ, führt Anklagevertreter Paul Thompson in seinem Eröffnungsplädoyer an. Weinstein habe sie systematisch genutzt, um Frauen zu missbrauchen. Das Foto von acht mutmaßlichen Opfern erscheint auf einem Bildschirm. Auszüge aus ihren Aussagen werden eingeblendet. "Ich dachte, dass mir sowieso niemand glauben würde, er war einfach zu mächtig", "Sein Einfluss in der Industrie war immens", "Er war der König der Filmbranche und wer war ich? Niemand", "Ich wollte in Hollywood arbeiten, deshalb hatte ich Angst", zitiert Thompson die Frauen, die zum Schutz ihrer Identität "Jane Doe" genannt werden.
Eine von ihnen wurde jedoch bereits öffentlich als Jennifer Siebel Newsom identifiziert – die Ehefrau des Gouverneurs von Kalifornien, Gavin Newsom. Sie wird im Detail schildern, wie Weinstein sie in einem Hotelzimmer vergewaltigt haben soll, "vor 17 Jahren, als sie eine unbekannte Schauspielerin war, die versuchte, ihren Weg in Hollywood zu machen", kündigt der Anklagevertreter an und gibt einen tieferen Einblick in den angeblichen Modus Operandi des einstigen Filmmoguls.
Er habe seine Opfer mit Vorliebe in Hotelzimmer gelockt, sie im Badezimmer abzuschotten sei eine seiner bewährten Vorgehensweisen gewesen. Der fünffache Vater habe sie genötigt, ihm beim Masturbieren zuzusehen, ihn im Intimbereich zu berühren, oral zu befriedigen und Sex mit ihm zu haben.
Alle mutmaßlichen Opfer könnten seine "einzigartigen anatomischen Merkmale" beschreiben, trägt Thompson vor und bezieht sich dabei auf Weinsteins Genitalien. "Aufgrund einer Infektion wurden seine Hoden aus dem Hodensack entnommen und in die Innenseiten seiner Oberschenkel eingesetzt." Dies habe auffällige Narben hinterlassen, die man nur kenne, wenn man den Angeklagten nackt gesehen habe.
"Jeder in Hollywood hat es getan"
Intime Details über den 70-Jährigen, der während des rund eineinhalb Stunden andauernden Plädoyers fast durchgehend starr geradeaus blickt. Nur die ständigen Bewegungen seines malmenden Kiefers und die weißen Knöchel der auf dem Tisch verschränkten Hände lassen seine Anspannung erahnen. Weinstein sitzt als einziger im Saal der Jury zugewandt. Den neun Männern und drei Frauen, die darüber entscheiden werden, ob ihm eine weitere Gefängnisstrafe von bis zu 140 Jahren droht. Das wollen seine Anwälte verhindern.
"Das war ja mal eine Rede, die Sie heute Morgen von der Staatsanwaltschaft gehört haben", beginnt Weinsteins Verteidiger Mark Werksman sein Eröffnungsplädoyer. Man frage sich: "Wenn das alles wahr ist, wozu dann ein Prozess?" Die Antwort schiebt er gleich selbst hinterher: "Er wird zeigen, dass der Fall der Staatsanwaltschaft nichts als heiße Luft ist – entworfen, um zu schockieren."
Die Beweise in diesem Fall würden nicht auf Fakten basieren, sondern auf Emotionen. Es gebe keine Aufnahmen, keine DNA, keine Zeugen. Nur Hörensagen. Und eine Hetzjagd, hervorgerufen durch die MeToo-Bewegung, in deren Zuge sich 2017 die meisten angeblichen Opfer Weinsteins gemeldet hatten. Wie für jedes andere "epische Drama" habe man einen Bösewicht gebraucht – und dieser sei Harvey Weinstein.
Opfer bricht unter Tränen zusammen – Weinstein lacht
"Sie werden lernen, dass Sex in Hollywood eine Ware war. Es war eine Transaktion. Unangenehm und beschämend vielleicht, aber einvernehmlich", so Werksman. Jede der Frauen, die sich nun als Opfer darstelle, habe den Sex mit Weinstein gewollt – und dafür eine Gegenleistung bekommen. "Es war eine andere Zeit, die Casting-Couch-Ära. Mächtige Männer hatten Sex mit erfolgshungrigen Frauen. Jeder in Hollywood hat es getan, weil jeder etwas vom anderen wollte", resümiert der Anwalt und zeigt auf seinen Mandanten. "Sehen Sie ihn sich an: Er ist nicht Brad Pitt oder George Clooney. Glauben Sie, diese schönen Frauen hatten Sex mit ihm, weil er attraktiv ist? Nein. Sie taten es, weil er mächtig ist", argumentiert er und erntet ein Lachen von Weinstein.
Dieser sei ein "unschuldiger Mann", das werde man nun beweisen. Der Angeklagte nickt seinem Verteidiger nach dessen Schlusswort aufmunternd zu. Harvey Weinstein scheint zufrieden mit dem Auftakt der Verhandlung, die nach knapp sechs Stunden abgebrochen werden muss, weil "Jane Doe 1" ihre Aussage vor lauter Weinen nicht zu Ende bringen kann. Der Saal leert sich unter betretenem Schweigen. Der für mehrere Wochen angesetzte Prozess wird am Dienstag fortgeführt. Ein Urteil wird im Dezember erwartet.
- Gerichtsverhandlung in Los Angeles
- Eigene Recherche