Vielseitig Die Ärzte melden sich zurück mit Hell"
Berlin (dpa) - Ohne Wumms geht es vermutlich nicht. Nach acht Jahren voller Querelen zwischen den Musikern, mit nur wenigen Auftritten und kaum neuer Musik meldet sich die Berliner Punkband Die Ärzte mit einem eindrucksvoll starken Album zurück.
Erste Duftmarken sind schon gesetzt: Die zweite Single-Auskopplung "True Romance" landete direkt auf Platz eins der Charts, erst das fünfte Mal die Top-Position für die 1982 gegründete Band. Zuvor kletterte "Morgens Pauken" schon auf Platz drei. Das fulminante Album "Hell" (VÖ 23. Oktober) von Bela B (57), Farin Urlaub (56 - bis 27. Oktober) und Rodrigo Gonzalez (52) verspricht weitere Erfolge, vor allem aber: Es gibt jede Menge Musikspaß.
"Es ist eine unserer besten Platten", sagt der Schlagzeuger Bela B im Gespräch der Band mit der Deutschen Presse-Agentur. Die 18 Stücke von "Hell" belegen nachhaltig, dass der Satz keine leere Phrase eines Musikers über sein jüngstes Werk ist. "Diese Mischung ist echt geil", ergänzt Gitarrist Urlaub und nennt den hörbaren Grund, "jeder von uns schreibt Songs, die die anderen beiden niemals schreiben würden."
So ist "Hell" (Bela B: "Himmel oder Hölle? Was Religiöses? Wir mögen das schon, diese Mehrdeutigkeit.") ein sehr vielseitiges Ärzte-Album geworden. Harte Rockriffs bilden eine Soundwall neben gezupfter Streicherromantik, erstklassiger Pop findet sich neben Kurt Weillscher Avantgarde, schunkelnder Bierfröhlichkeit oder wildem Oi!-Punk.
Punk? So nonkonformistisch und provozierend Die Ärzte einst begonnen haben mögen, wird das Rebellische bei den längst arrivierten Musikern immer wieder in Frage gestellt. Das haben sie mit der ersten Auskopplung "Morgens Pauken" selbst auf die Schippe genommen, wenn sogar blank geputzte D-Aufkleber und Chardonnay zu Punk erklärt werden. "In den 90ern ging es los mit Golf-Punk und Business-Punk", sagt Urlaub. "Und dann hieß Punk: Wir sind alle sowieso ein bisschen anders und eigentlich stecken wir alle unter einer Decke. Der Song ist die finale Abrechnung mit jedem, der für sich in Anspruch nehmen will, dass er eigentlich auch Teil cooler Subkultur ist." Bela B sieht im Song denn auch ein "Plädoyer für Vielseitigkeit".
Wie erfolgreich Die Ärzte immer noch ansteckend fröhlichen Pop machen können, zeigt "True Romance", ein Song über einsamen Sex in virtuellen Zeiten mit Gespielinnen wie Siri und Alexa. Unter #singtrueromance finden sich im Netz bereits unzählige Coverversionen. Der Zusammenschnitt "We Are The Romance" vereint Künstler wie Die Toten Hosen, Antilopen Gang, Beatsteaks, Deichkind, Fettes Brot, Kraftklub und Tocotronic bis zu H.P. Baxxter oder Roland Kaiser.
Mit "Das letzte Lied des Sommers" gibt es auf "Hell" zudem noch einen Song, der nahtlos an die launige Mitsingkultur eines Hits wie "Westerland" anknüpft. Bei Zeilen wie "Ich träume immer noch von Sonne, Sand und Meer / doch ich steh' hier im Berufsverkehr" scheinen vielstimmige Chöre im Pendlerstau programmiert. Karibisch-fröhlich rückt "Ich, am Strand" die Ego- und Selfie-Manie in den Fokus - bis hin zum finalen Foto beim Kippensammeln unter dunkler Brücke.
Daneben steht mit "Achtung: Bielefeld" eine sehr rockiges Plädoyer für ein offenes Bekenntnis zur Langeweile. Wie ernst es den Ärzten damit ist, zeigt die Zeile "ich denke, dass eine Mutter in Aleppo sich auch ganz gern mal langweilen würde". Urlaub zum Song: "Der Bezug zu Aleppo war mir beim ersten Hören sogar zu hart und jetzt bin ich total glücklich, dass es auf dem Album drauf ist." Bela B: "Es ist ein verdammter Luxus, dass wir uns langweilen dürfen. Genauso wie es verdammter Luxus ist, dass wir hier in unserem Land nur beim Einkaufen eine Maske tragen müssen. Es ist auch ein Song gegen das Jammern."
Womit wir bei der Politik wären. "Wer verliert, hat schon verloren" warnt vor schneller Aufgabe kämpferischer Ziele, denn "Verlieren ist keine Option". Daneben geht es gegen krude Verschwörungsmythen aus dem "Netz der Wahrheit". In "Woodburger" wird die AfD mit Analverkehr unterlaufen, die könne zudem "ohne Angst und Hass nicht überleben". Mit "Liebe gegen rechts" setzen Die Ärzte auf die Heilkraft emotionaler Zuwendung, weil ja "niemand als Faschist geboren" wird.
Für Urlaub ist "Hell" ein "relativ" politisches Album. Es seien Alltag und Dinge, "mit denen wir uns beschäftigen", sagt Bela B, "dazu gehören blöderweise auch der Rechtsruck, die rechtspopulistischen Auswüchse der letzten Jahre." Mit Einschränkung: "Alles garniert mit der Albernheit und Leichtigkeit der Ärzte."
Nach acht Jahren ohne Ärzte-Album - die Musiker brauchten gegen den "schleichenden Tod" (Urlaub) "einfach erst mal viel Abstand" (Bela B) - sind nun ganz viel Spielwitz und Ideenreichtum zu finden. Urlaub lässt mit gleich zehn Songs seiner Gestaltungskraft ("durch die lange Pause staut sich dann doch Kreativität an") freien Lauf. Seinen Gitarren-Helden Frank Zappa platziert er gleich in zwei Texten plus Gitarrensolo aus Zappas "Wind Up Workin' In A Gas Station" als musikalisches Zitat in "Warum spricht niemand über Gitarristen?".
Bela B betont den musikalischen Wert der Songs. "Auf der Platte ist es ganz von allein gelungen, bei großartigen Stücken wie "Warum spricht keiner über Gitarristen" oder "Polyester" den Text fast unterstützend wirken zu lassen, wo man die Stimme als gleichwertiges Instrument wahrnehmen und den Sinn der Worte, so gut sie sind, auch mal ausblenden kann."
Der "Clown aus dem Hospiz" blickt auf die dunkle Seite der Kunst. "Irgendwie gehörte die Melancholie des Verlierers für mich zur Rockmusik", sagt Bela B. Einer Theorie zufolge müsse der Künstler immer um Haaresbreite am Abgrund stehen, um produktiv zu sein. "Kein Humor funktioniert ohne Tragik. Und ohne tragische Tiefe wären die Ärzte nicht so lustig."
Manche Frage lassen "Hell" und die Musiker unbeantwortet. "Der Songtitel "Fexxo Cigol" bezieht sich auf etwas, was nicht mal Rod weiß, vielleicht auch nicht wissen will", sagte Bela B. Auch die Bedeutung von "EVJMF" sei "ein Insider, das behalten wir für uns". Bassist Gonzales mit Ärzte-Lachen: "Das wird auf meinem Grabstein stehen."