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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Buchtipps für den Herbst Kindersoldaten, Flucht aus Äthiopien und Abstiegsangst in Hamburg
Dadaab war einst das größte Flüchtlingslager der Welt. In einem schicken Hamburger Viertel platzt die Blase vom sorgenfreien Leben, als beide Eltern ihre Arbeit verlieren. Und eine Italienerin wird von der finsteren, kolonialen Vergangenheit ihres Landes eingeholt. Unsere Buchtipps für den Herbst.
Die Tage werden kürzer, die Lesezeit wird länger. Wieder wurden Romane und Sachbücher für Sie ausgewählt, die spannend sind, tragisch oder beides. Mit Humor geschrieben oder sachlich, aber immer hervorragend. Die auf die eine oder andere Weise etwas mit unseren Lebenswelten zu tun haben, auch wenn wir es auf den ersten Blick nicht immer gleich sehen. Bemerkenswerte Bücher lesen, heißt auch: sich in andere Menschen hineinversetzen. So viele Leben verstehen.
Kristine Bilkau – Die Glücklichen
Sie sind glücklich, die drei. Isabell, Georg und ihr kleiner Sohn Matti. Sie wohnen in einem der schönsten Stadtteile Hamburgs. Pastellfarbene Häuser, stuckverziert. Feinkostläden und viele Cafés, in denen man auf Gleichgesinnte stößt. Die Bewohner des Viertels haben interessante Jobs, ernähren sich bio, ziehen im Freibad ihre Bahnen.
Isabell ist Cellistin im Orchester eines Theaters. Als sie nach ihrer Elternzeit dorthin zurückkehrt, von Kleinkindnächten chronisch übermüdet, mit dem Anspruch, alles perfekt zu machen, beginnt ihre Hand beim Spielen zu zittern. Erst unmerklich, dann unüberhörbar. Sie streicht den Bogen starr, die Töne klingen hohl. Als Arm und Schulter immer stärker schmerzen, lässt sie sich krankschreiben. Ein paar Monate später wird ihr Vertrag nicht verlängert. Georg: Journalist bei einer angesehenen Zeitung. Ihm geht es wie so vielen in seiner Branche. Zeitung verkauft, Stellenabbau. Jetzt hängt er zuhause Wäsche auf und knipst die Lampe aus, um Strom zu sparen. Er bewirbt sich als Lokalreporter auf dem platten Land.
Ein psychologisches Portrait
Sprachlosigkeit, stumme Vorwürfe. Isabells Weigerung die Realität anzuerkennen: Sie kauft Maronenaufstrich und ein Designerkleid, schließlich bekommt sie ein Jahr ALG 1. Von ihren zitternden Händen erzählt sie nichts. Sie vermasselt ein Vorspiel an der Staatsoper, beim nächsten flieht sie fünf Minuten vorher. Wie ist das, wenn man durch das Raster unserer Leistungsgesellschaft fällt? Es geht ein Gespenst um – die Angst, es irgendwann nicht mehr zu schaffen: mitzuhalten mit dem enormen Tempo, dem Druck, auch mit den eigenen Ansprüchen an sich und die Welt.
Kristine Bilkau entwirft das psychologische Porträt eine Paares, das für eine ganze Generation unserer Gesellschaft steht. Es liegt eine feine Ironie in ihren Beschreibungen, wenn im besagten Viertel ein Wiesenblumenstrauß 35 Euro kostet. Ganz sacht zeigt die Autorin einen Weg auf, den die beiden gehen können. Das ist schön und beruhigt. Denn dem Leser wird mit jeder Seite klarer, dass es in seinem urbanen Hipsterleben ganz schnell auch so laufen könnte.
Was mich an dem Buch gepackt hat: Das wunderschöne Hamburger Viertel, wo Schein und Sein so nah zusammen liegen. Wie schwer es ist, Schwäche zu zeigen.
Francesca Melandri – Alle, außer mir
Ein Buch über Italien und Äthiopien, über Kolonialismus und Rom. Über drei Familien und einen schillernden Patriarchen. Alles beginnt, als eines Tages die römische Lehrerin Ilaria nach Hause kommt und vor ihrer Tür ein junger Äthiopier sitzt. Er behauptet, ein Enkel ihres Vaters zu sein. Ilaria macht sich auf die Suche nach dem verborgenen Teil ihrer Familiengeschichte und kann kaum glauben, was sie entdeckt. Attilio Profeti, ihr Vater, war im zweiten Weltkrieg nicht Partisan, wie alle dachten, sondern Faschist. Er hatte lange Jahre in Äthiopien gelebt, was keiner wusste. War als Schwarzhemd über die ockergelbe Hochebene gezogen und hatte gegen die Bevölkerung Krieg geführte. Die Geliebte, die er dort hatte, hieß Abeba, Blume auf amharisch.
Es ist aber auch ein Buch über Flüchtlinge und ihre Odyssee. Weg aus Adis Abeba, wo täglich Menschen spurlos verschwinden. Am Tanasee vorbei, nach Khartum im Sudan. Durch die Wüste nach Libyen, wo sie Habescha, die Verbrannten, heißen. Übers Mittelmeer nach Italien. Drei Jahre war der Junge unterwegs, dazwischen Verliese, die so dunkel sind, dass kein Wort nach draußen dringt.
Die Folgen reichen in die Gegenwart
Wir wissen wenig über Äthiopien, über Haile Selassie, Mengistu und die Derg-Terroristen. Italien hat seine Kolonialgeschichte verdrängt, so wie Attilio Profeti. Er hatte immer Glück, laviert sich durch – und ist trotz allem Kriegsverbrecher. Ilaria fügt ihrer Familiengeschichte jeden Tag neue Mosaiksteinchen hinzu. Als ihr neuer Neffe plötzlich verschwunden ist, muss sie Liebe, Loyalität und Moral neu für sich definieren.
Die Geschichte steht exemplarisch für alle Länder, die in Afrika Kolonien hatten. Dort so geherrscht haben, dass man es beim Lesen manchmal kaum ertragen kann. Die Folgen reichen in die Gegenwart. Die Autorin Francesca Melandri verwebt die Schicksale beider Länder zu einer Saga, an deren Ende zwei Dinge klar sind: Niemand verlässt freiwillig für immer seine Heimat. Und die Geschichte holt einen immer wieder ein.
Große Literatur lässt einen die Welt mit anderen Augen sehen. Das ist hier so.
Was mich an dem Buch gepackt hat: Äthiopien mit seiner unglaublichen Geschichte, seine Landschaften und Menschen. Das Schicksal einer starken Frau: Abeba.
Louise Penny – Die Gamache Serie
Es gibt Krimis, in denen zwischendurch die Sonne scheint, und die man trotzdem nicht aus der Hand legen kann. Sie sind unheimlich, schließlich geht es um Mord, aber gleichzeitig schaffen sie ein großes Kunststück: Man fühlt sich in ihnen zu Hause.
"Das Dorf in den roten Wäldern" ist so ein Buch. Three Pines ist in keinem Reiseführer erwähnt, zu weit abgelegen, aber wer einmal kommt, kommt immer wieder. In den Beeten blühen Rosen und Phlox, niemand schließt sein Haus ab. Ein Bistro, ein Buchladen, eine alte Kirche, drum herum Wälder, die sich im Herbst spektakulär färben.
"Das Dorf in den roten Wäldern"
Herbstzeit, Pirschzeit. Die Bogenjagd hat in der Gegend Tradition. Jane Neal liegt tot unter bunten Ahornbäumen, da hat man noch nicht mal die erste Seite gelesen. Sie wurde mit einem Pfeil erschossen, fast meint man, das Laub rascheln zu hören. 76 Jahre war die Künstlerin alt. Jeder im Dorf hat sie geliebt. Gerade wurde ihr erstes Bild für eine Ausstellung nominiert: Fair Day zeigt den Jahrmarkt in Three Pines.
Ein Fall für Armand Gamache, Leiter der Mordkommission in Montréal. Ein Inspektor mit brillantem Verstand und Einfühlungsvermögen in noch so abgründige Seelenwelten. Er beobachtet scharf, hört gut zu, stellt wenige, aber die richtigen Fragen. In dem Dorf fühlt er sich sofort wohl, genießt franko-kanadische Köstlichkeiten in dem Café. Die Ermittlungen laufen, wie es sich für einen hervorragenden Krimi gehört, in eine Richtung, die man nicht vermutet.
"Hinter den drei Kiefern"
Die Gamache-Serie ist in Kanada längst ein Riesenerfolg. Auch der zweite Band "Hinter den drei Kiefern" ist bereits auf Deutsch erschienen. Halloween in Three Pines, der Duft von Herbst und Kürbiskuchen liegt in der Luft, als plötzlich eine unheimlich verkleidete Gestalt auf dem Dorfanger steht. Stumm blickt sie tagelang in dieselbe Richtung. Als sie verschwindet, geschieht ein brutaler Mord. Inspektor Gamache hat mittlerweile in Three Pines ein Wochenendhaus. Unter der Woche kämpft er in Montréal gegen ein Drogenkartell, jetzt nimmt er auch hier die Ermittlungen auf.
Sehnlichst erwartet: Ein weiterer Gamache-Krimi, "Auf einem einsamen Weg" erschien Ende August, der nächste, "Tief eingeschneit" kommt im Oktober raus.
Was mich an dem Buch gepackt hat: Das kanadische Dorf. Man möchte sofort hinziehen, auch wenn sich in dem Idyll ab und zu Abgründe auftun.
Alexandra Schlüter liest, liest, liest. Sie studierte Philosophie, Literatur und Psychologie und ist seit vielen Jahren in der Verlagsbranche tätig. Sie war Programmchefin bei National Geographic Books und arbeitet als Autorin und Agentin. Bei t-online.de empfiehlt sie Ihnen gute Literatur: Belletristik und Sachbücher, auch mal Jugendbücher und Klassiker.
Peter Frankopan – Die neuen Seidenstrassen
Porzellan, aber auch die Pest kamen vor tausenden von Jahren über die Seidenstraße nach Europa. Jetzt ist ein uralter Gedanke wieder erwacht: Warenverkehr von Ost nach West, aber nicht nur auf einer, nein auf vielen Seidenstraßen. Mit Abzweigungen und Knotenpunkten. Pipelines, Zugtrassen und Tiefseehäfen. Zwischen Mittelmeer und Südchinesischem Meer entsteht gerade ein globales Netzwerk, das die Welt verändern wird.
In Zentralasien werden Abkommen von Ländern unterzeichnet, die sich jahrzehntelang spinnefeind waren. Tadschikistan, Kirgistan, Kasachstan und immer wieder China. Hunderte Milliarden werden investiert an Orten, die man erst einmal auf google maps suchen muss. Von China finanziert. Die Handelswege durchqueren Länder mit reichen Rohstoffvorkommen. Seltene Erden in Afghanistan, Gas und Erdöl im Iran.
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Es geht um strategische Vorteile, Kontrolle und Macht
Die strategisch treibende Kraft hinter der Vision "Belt and Road": China. Dass sie sich in Afrika engagieren, hat man in den letzten Jahren mitbekommen. Aber in Vanuatu und Sibirien? Das Konstrukt der Seidenstraßen ist flexibel, mehr als 80 Länder nehmen bislang daran teil. Handel, Wandel und Wohlstand. Viele berechtigte Hoffnungen knüpfen sich an das Projekt. Aber wo es um Warenverkehr geht, geht es auch um die Verteilung von Ressourcen. Um strategische Vorteile, Kontrolle und Macht.
Peter Frankopan ist Professor für Globalgeschichte an der Universität Oxford (und Autor des Bestsellers „Licht aus dem Osten“). Er zeichnet nach, mit welcher Wucht diese Entwicklungen vorangetrieben werden – an Europa, auch an den USA vorbei. Von China, Russland, Iran, auch der Türkei. Aber er beschreibt auch die andere Seite der Medaille. Die Menschenrechtslage in vielen der beteiligten Ländern ist desolat. Was passiert, wenn in China die Finanzblase platzt? Und: Die Infrastruktur kann auch militärisch genutzt werden. Viele der Krisenherde der Welt liegen an den neuen, alten Handelswegen, von Kaschmir bis nach Syrien. Der Ölpreis, Währungen, die Straße von Hormus, Frieden oder Krieg – die neuen Seidenstraßen betreffen uns alle.
Was mich an dem Buch gepackt hat: Die Möglichkeit, von China mit dem Zug ans Kaspische Meer zu fahren. Dass die Grenzen zwischen Handel und Neokolonialismus fließend sind.
Ben Rawlence – Stadt der Verlorenen
Somalia, Mogadischu. Guled, 16 Jahre alt, sitzt in seiner Klasse, als er von vermummten Männern zwangsrekrutiert wird, als Kindersoldat. Aber er hat Glück im Unglück: Ihm gelingt die Flucht Richtung Kenia, nach Dadaab. Idris möchte sein Land nicht verlassen, bis Rebellenmilizen von al-Shabaab seine beiden ältesten Söhne erschießen. Er flieht mit seiner Familie über den Juba. Wo Isha lebt, hat es seit Jahren nicht geregnet, es wächst nichts mehr. Die Bauern können ihre Abgaben an al-Shabaab nicht mehr zahlen und haben jetzt die Wahl: zu verhungern oder zu fliehen, nach Dadaab. Menschenkolonnen machen sich auf den Weg durch die Wüste. Wehrlos, mit Kleinkindern auf dem Rücken, im Nacken die Terrormiliz, jenseits der Grenze korrupte, kenianische Polizisten. Niemand zählt die vergewaltigten Frauen.
Bürgerkriege, Hungersnöte. Mit einer halben Million Menschen ist Dadaab zeitweise das größte Flüchtlingslager der Welt. Unter dem Dach der UNHCR gibt es Essen, kostenlose Schulen, Krankenhäuser, aber keine Perspektive. Die Flüchtlinge dürfen das Lager nicht verlassen, offiziell nicht arbeiten. Über 25 Jahre gibt es das Lager schon, drei Generationen lang.
Sicherheit gibt es dort immer noch nicht
Als zwei Mitarbeiterinnen einer Hilfsorganisation entführt werden, kippt die Stimmung. Kenianische Polizisten gehen brutal gegen die Flüchtlinge vor, hinter jedem vermuten sie al-Shabaab. Der Krieg gegen den Terror heiligt die Mittel, auch als Kenia schließlich in Somalia einmarschiert. Das Land am Horn von Afrika ist strategisch wichtig – für viele Länder. Nacht für Nacht fallen jetzt in Dadaab Schüsse. Die NGOs haben sich hinter Betonmauern verschanzt, die Versorgung im Lager droht zusammenzubrechen.
Ben Rawlence, Afrikaexperte und Menschenrechtsbeobachter, verbrachte insgesamt fünf Monate in Dadaab, um dort das Leben der Gestrandeten zu begleiten. Mahat, der Schuhe putzt, Guled, der Lasten trägt, und viele andere mehr. Somalia ist ein failed state, Sicherheit gibt es dort immer noch nicht. Kenia hat gerade mal wieder verkündet, das Lager dieses Jahr aufzulösen. Die Uno soll sich überlegen, wo die Menschen hin können.
Was mich an dem Buch gepackt hat: Dass eine Mutter statt drei Kilo Reis zwei Batterien kauft, damit ihre Tochter nach Einbruch der Dunkelheit noch lernen kann.
- eigene Recherche