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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Buchempfehlungen für die neue Woche Familiengeschichten, Katastrophen und Brexit mal anders
Kann man noch lieben, wenn man sein Gedächtnis verliert? Was passiert mit einer Familie, wenn die heile Welt von einer auf die andere Minute zerbricht? Und was macht eine prominente Britin, der es mit dem Brexit-Chaos reicht? Nicht nur Tee trinken – sie beantragt die deutsche Staatsbürgerschaft.
Lesen! Immer! Draußen im Park, in der Mittagspause. Zwischendurch in der S-Bahn oder im Lieblingscafé. Sie werden hier aktuelle Bücher finden, aber auch Schmuckstücke, die Ihnen vor ein paar Jahren vielleicht durchgerutscht sind. Manche Titel sind oder waren Bestseller, andere sind (noch) Geheimtipps. Es werden Belletristik und Sachbücher empfohlen, Unterhaltsames und Ernstes. Bücher, die zum Lachen bringen und solche, die berühren.
Sarah Moss – Gezeitenwechsel
Zwei Töchter, lebhaft und intelligent. Mutter, Ärztin, arbeitet viel. Vater, schlecht bezahlte Uni-Teilzeitstelle, dafür Hausmann und warmherziger Ansprechpartner für alles und jeden. Man möchte sofort mit den Goldschmidts befreundet sein. Eines Tages ein Anruf aus der Schule, Miriam, die Ältere, liegt ohnmächtig am Rand des Sportplatzes. Herzstillstand, Wiederbelebung, Notarzt, wochenlanger Aufenthalt im Krankenhaus. Diagnose: ungewiss.
Was macht das mit einer Familie? Das plötzliche Bewusstsein, dass die heile Welt von einer Minute auf die andere zu Ende sein kann? Mit dem Mädchen, das mitten in der Pubertät gerade dabei war, sich von den Eltern zu lösen und jetzt rund um die Uhr im Zentrum der Aufmerksamkeit steht. Mit der kleinen Schwester, die spürt, dass die Angst in ihr Zuhause kriecht. Mit der Beziehung der Eltern, die vorher schon kaum Zeit füreinander hatten.
Wie lebt es sich nach einer Katastrophe weiter?
Auf einmal stellen sie vieles infrage, was vorher selbstverständlich war. Die Rollenverteilung, das Zeitmanagement. Die Lebensphilosophie. Nichts ist mehr wie es einmal war, und ganz so wird es nie mehr werden.
Was macht die Geschichte einer englischen Durchschnittsfamilie zu bemerkenswerter, zeitgenössischer Literatur? Gute Beobachtungsgabe und Psychologie. Eine feine Feder. Das Gespür, welche Themen die Gesellschaft bewegen: uns, die wir versuchen, mit Beruf und Kindern ein familienfreundliches, achtsames Leben zu führen. Ja, und dann geht es auch um die große Frage: Wie lebt es sich nach einer Katastrophe weiter?
Nicht zufällig forscht der Vater, aus dessen Perspektive der Roman geschrieben ist, über die Kathedrale von Coventry. In einer einzigen Nacht von deutschen Bombern zerstört, die Stadt in Schutt und Asche gelegt. Grandios, wie Sarah Moss vom Aufbau der Kathedrale erzählt. Sie steht heute wieder, aber die Vergangenheit ist in den Bau integriert. Hier wurde nichts verleugnet, keine originalgetreue Fassade hochgezogen. So können Wunden heilen, kann das Leben weitergehen. Beim Muschelsuchen am Meer, wo die Gezeiten wechseln, als wenn nichts gewesen wäre.
Was mich an dem Buch gepackt hat: Modernes Familienleben aus der Vater-Perspektive. Der Wiederaufbau der Kathedrale von Coventry. Und das Meer, das rauscht, egal, was passiert.https://afl.t-online.de/widget?widgetId=4742
Lars Mytting – Die Birken wissen’s noch
Ein kleiner Hof in den norwegischen Bergen. Kartoffelfelder und ein Wald aus Flammenbirken. Hier lebt Edvard mit seinem Großvater, angelt Äschen im Fluss, ist geschickt mit Holz. Wie sein verschollener Großonkel, ein Meistertischler, der einen außergewöhnlichen Sarg gezimmert hat. Edvards Eltern sind gestorben, als er drei war. Auf einer Urlaubsreise in Frankreich atmeten sie Giftgas von einem Blindgänger ein und ertranken. Edvard war damals vier Tage verschwunden, danach wuchs er bei seinem Großvater auf.
Als dieser stirbt, macht er sich auf, um herauszufinden, was es mit dem Tod seiner Eltern, seiner Familiengeschichte, auf sich hat. Eine Spur führt ihn auf die Shetland-Inseln, im Zweiten Weltkrieg sicherer Hafen für Norweger, die vor den Nazis übers Meer aus ihrer Heimat flohen. Karge Tupfen im wilden Atlantik, Seevogelgeschrei. Edvard verliebt sich in ein Mädchen aus reichem Haus, das in der Einsamkeit Weltflucht übt und sich für seine Geschichte interessiert – wenn auch aus anderen Gründen als er.
Dunkle Familiengeheimnisse
Wenn man nicht weiß, woher man kommt, findet man im Leben keinen richtigen Halt. Dunkle Familiengeheimnisse ziehen sich durch Generationen. Frieden gibt es nur, wenn man sich ihnen stellt. Das spürt Edvard, aber wie das Schicksal seiner Familie mit den großen Tragödien des 20. Jahrhunderts in Europa verwoben ist, ahnt er nicht. Seine Mutter, geboren in Ravensbrück; sein Großvater, Mitglied in der SS-Freiwilligen-Legion Norwegen; sein Großonkel, der begnadete Kunsttischler, Mitglied in der Résistance.
All das ist atemberaubend spannend und literarisch zugleich. So stellt man sich ein Buch aus Norwegen vor, auch wenn es gar nicht ausschließlich in Norwegen spielt. Mit Tiefe wie ein dunkler Fjord, dann wieder leicht, auch mal lakonisch. Meer, wilde Natur, ein Feuer im Ofen. Draußen Sturm, knorrige Menschen, die ihre eigenen Wege gehen.
Die Winter in dem Nordland sind lang, kein Wunder, dass dort viel und hervorragend geschrieben wird. Wie schön, dass Norwegen dieses Jahr Gastland der Frankfurter Buchmesse ist!
Was mich an dem Buch gepackt hat: Die Ungewissheit, die über allem schwebt. Die salzige Luft auf den Shetland-Inseln.
Lisa Genova – Still Alice: Mein Leben ohne Gestern
Dr. Alice Howland ist eine brillante Wissenschaftlerin, Psychologie-Professorin in Harvard, Schwerpunkt Psycholinguistik. Ihre Kinder sind aus dem Haus, ihr Mann lehrt auf demselben Campus. Ein perfektes Leben. Alice liebt ihren Beruf, ihre Studenten. Sie ist geachtet und beliebt im Ivy-League-Kosmos.
Es passiert schleichend. Ihr, der nie die Worte fehlen, fällt auf einmal der richtige Begriff in einem Vortrag nicht ein. Sie verläuft sich beim Joggen in ihrem eigenen Viertel. Erkennt eine Frau nicht wieder, die ihr vor fünf Minuten vorgestellt worden ist.
Diagnose: Alzheimer!
Diagnose Alzheimer und das mit 50. Sie kann es nicht fassen. Sie, die sich immer über ihren messerscharfen Verstand definiert hat. Alice weiß, was auf sie zukommt. Die Ärzte bestätigen, dass es keine Heilung gibt, nur die leise Hoffnung, den Verfall zu verlangsamen. Wie sagt man es seinem Mann, den Kollegen, seinen Kindern? Ihr Mann möchte die Tragödie erst nicht wahrhaben. Im Kollegenkreis hält sie zunächst die Fassade aufrecht.
Was macht uns zu dem Menschen, der wir sind? Unser Geist, unser Gehirn, die chemischen Reaktionen darin? Wo sitzen unsere Emotionen? Auch dort? Und wenn ja, kann man dann überhaupt noch lieben, wenn bestimmte Teile des Gehirns zerstört sind? Unweigerlich fängt man an, über die eigenen Werte nachzudenken. Zunächst möchte Alice nur solange weiterleben, wie ihr Verstand funktioniert. Dann noch die Geburt ihrer Enkelkinder erleben. Es kommt der Tag, an dem sie ihre eigene Tochter nicht mehr erkennt. Aber sie spürt noch die Sonne im Gesicht.
Warum es trotz allem nicht nur ein trauriges, sondern auch ein sehr schönes Buch ist: Das Laub auf dem Campus raschelt, Harvard ist ein Mythos und die Howlands sind Teil davon. Wir joggen mit Alice am Charles River, schnuppern Ostküstenluft. Sie zeigt, wie man das Leben in die Hand nehmen kann, solange es geht, und dass die Liebe bleibt. Alice, eine Heldin.
Die Autorin Lisa Genova hat in Neurowissenschaften in Harvard promoviert. Das Buch wurde mit Julianne Moore in der Hauptrolle genial verfilmt. Sie erhielt dafür den Oscar.
Was mich an dem Buch gepackt hat: Die Schlüsselfrage: Hat ein Erlebnis nur einen Wert, wenn wir uns am nächsten Tag noch daran erinnern?
Alexandra Schlüter liest, liest, liest. Sie studierte Philosophie, Literatur und Psychologie und ist seit vielen Jahren in der Verlagsbranche tätig. Sie war Programmchefin bei National Geographic Books und arbeitet als Autorin und Agentin. Bei t-online.de empfiehlt sie Ihnen gute Literatur: Belletristik und Sachbücher, auch mal Jugendbücher und Klassiker.
Kate Connolly – Exit Brexit: Wie ich Deutsche wurde
Exzentrische Engländer, die Wachsjacken tragen und ihren Tee mit viel Milch trinken. Überpünktliche Deutsche, die nicht wissen, wie man eben diesen Tee richtig zubereitet. Das allein wäre schon Stoff für ein Buch. Aber Kate Connolly geht es um viel mehr als Klischees, denn sie entscheidet sich zu einem drastischen Schritt. Sie bewirbt sich um die deutsche Staatsbürgerschaft. Das Brexit-Chaos ihres Vaterlandes hält sie einfach nicht mehr aus.
Am Morgen nach dem Referendum weint sie. Sie hat Champagner gekauft, um den Sieg der Remainers zu feiern, jetzt steht sie unter Schock. Connolly ist Deutschland-Korrespondentin des Guardians, eine der angesehensten Zeitungen der Welt. Sie lebt mit Mann und Kindern in Berlin, ist Deutschlandkennerin, vor allem aber überzeugte Europäerin, und jetzt reicht es ihr: mit Nigel Farage, den sie einen Idioten nennt. Mit Boris Johnsons, der lügt, dass sich die Balken biegen. Mit dem Fremdenhass, der wie eine Welle durch ihr Land schwappt. Was ist los mit dem Vereinigten Königreich, das die EU für alles verantwortlich macht, was nicht klappt? Sie geht hart ins Gericht mit ihrem geliebten Heimatland.
Britishness und baldiges Deutschsein
Connolly analysiert scharf, wo die Wurzeln liegen. Sie zeichnet die Beziehung des UK zu Europa, besonders auch zu Deutschland, nach, thematisiert die Psychologie eines Volkes, das sich durch seine Insellage schon immer für etwas Besonderes hält. Europafreunde waren sie nie, pragmatisch schon, solange es sich bei der Union um ein bloßes Wirtschaftsbündnis handelte. Now they want to take back control.
"Du wirst nicht mehr dieselbe sein...", sagt ihr Mann, als sie sich um die deutsche Staatsbürgerschaft bewirbt. Das ist Connollys Kunstgriff, der wirklich gut funktioniert. Sie verknüpft ihre persönliche Einbürgerungsgeschichte mit der Brexit-Entwicklung, die sie als Korrespondentin täglich kommentiert. Immer wieder fragt sie sich, was ihre eigene Britishness, aber auch ihr baldiges Deutschsein ausmacht. Natürlich viel mehr als tea time und Brot mit Kruste.
Der Brexit erwacht grad aus dem Sommerschlaf, mit Boris Johnson als neuem Prime Minister, der schon mal die Messer wetzt. Am 1. November wissen wir mehr.
Was mich an dem Buch gepackt hat: Wie ein so beherrschtes Land auf einmal völlig durchdrehen kann. Der englische Humor auf jeder Seite. Also trotz allem: Cool Britannica!https://afl.t-online.de/widget?widgetId=4746
Sacha Batthyany – Und was hat das mit mir zu tun?
Ein rauschendes Fest in den letzten Kriegstagen, Ballkleider, Nazi-Uniformen, Sekt. Im Schloss wird gelacht und getanzt. Draußen 180 ungarische Juden, an Fleckfieber erkrankt. "Die sollen weg", heißt es in einem Anruf, müssen aber vorher noch das eigene Massengrab ausheben. Zwischendurch gönnen sich die Herren eine Pause vom Fest und erschießen die Juden, um danach fröhlich weiter zu feiern. Mittendrin: die Dame des Hauses, Gräfin Batthyány-Thyssen, wie immer die Schönste.
Wie geht man mit so einer ungeheuerlichen Geschichte um? Batthyány hat sich vorher nie für das Adelsgeschlecht interessiert, aus dem er stammt. Er ist in der Schweiz aufgewachsen und arbeitet dort als Journalist. In Familiengesprächen ist nie ein Sterbenswörtchen über dieses Massaker nahe der österreichisch-ungarischen Grenze gefallen. Eine Kollegin hat ihn darauf aufmerksam gemacht, in der eigenen Großfamilie stößt er auf Schweigen. Er geht der Geschichte seiner skrupellosen Großtante nach. Er möchte herausfinden, ob sie Mörderin oder Mitwisserin war, aber schon bald geht es um mehr. Er merkt, dass die Vergangenheit auch etwas mit ihm zu tun hat, er weiß nur noch nicht was.
Auf der Suche nach der Wahrheit
Batthyány gelingt mehr als die Rekonstruktion einer unfassbaren Tat. Denn wie er versucht, Nähe zu seinem Vater aufzubauen, ist berührend. Was trägt dieser mit sich herum, der seinen eigenen Vater erst mit 14 Jahren kennengelernt hat, als dieser aus dem sibirischen Gulag zurückkehrte? Sie fahren gemeinsam hin, suchen nach den Spuren des stalinistischen Terrors. Die Russen waren für Batthyánys ungarischen Vater immer der größte Feind, nicht die Nazis. Wie ist das, wenn die Geschichte zwischen einem selbst und den Eltern oder Großeltern steht? Wenn man mit seiner Oma über das Wetter redet, obwohl es fast ein ganzes Jahrhundert, einen Weltkrieg, zu erzählen gäbe.
Batthyány fährt nach Ungarn an den Ort des Massakers, spricht mit Zeitzeugen, recherchiert in Archiven. In den Lebensaufzeichnungen seiner Großmutter verbirgt sich ein weiteres Verbrechen. Niemand hatte die leiseste Ahnung, woran sie ihr Leben lang trug.
Was mich an dem Buch gepackt hat: Die Frage, die sich der Autor stellt: "Könntest du das, Juden verstecken?" Und seine ehrliche Antwort.https://afl.t-online.de/widget?widgetId=4747
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- eigene Recherche