Radprofi im Interview Greipel auf Abschiedstour: "Ist schon eine komische Tour"
La Roche-sur-Foron (dpa) - André Greipel nimmt Abschied von der Tour de France. Mit einem weiteren Start rechnet der Altstar nicht mehr. Einen großen Sprint will der elfmalige Etappensieger aber noch fahren. In Paris, wo der 38 Jahre alte Radprofi schon zweimal gewann.
Im Interview der Deutschen Presse-Agentur spricht Greipel über seine Leiden, die ungewöhnliche Tour in Corona-Zeiten und seine zukünftige Zusammenarbeit mit Chris Froome.
Sie sind zu Beginn der Tour de France schwer gestürzt. Wie hart ist es in diesem Jahr für Sie?
André Greipel: Ich bin noch nie eine leichte Tour gefahren. Mit den Umständen entsprechend ist das in diesem Jahr eine der härtesten, die ich gefahren bin. Der Kopf hat mich dann trotzdem irgendwo auf dem Rad gelassen.
Sie sind einmal Sechster geworden. Können Sie noch einmal bei den Massensprints eingreifen?
Greipel: Ich rechne nicht mit einem weiteren Sprint vor Paris. Bis dahin müssen wir uns gedulden. Es ist schwer, gegen die ganzen jungen Wilden noch einmal eine Etappe zu gewinnen. Ich bin froh, dass ich einmal mitsprinten konnte. Das war ein kleiner Lichtblick, aber nicht das, was ich kann und will. Durch die Umstände musste ich akzeptieren, dass ich bei vielen Sprintentscheidungen nicht dabei war. Der Sturz, Antibiotikum, Verdauungsprobleme - das war schon eine Tortur.
Es gab wieder viele Stürze. Ist es hektischer geworden?
Greipel: Bei jeder Tour, die ich gefahren bin, passieren in der ersten Woche diese Stürze. Das ist leider ein Teil der Radrennen. Die Tendenz geht dahin: Immer schneller, immer weiter, immer höher. Wir haben mehr als 35.000 Höhenmeter gefahren. Das ist schon aussagekräftig. Dass der eine oder andere Körper oder Kopf nicht mehr ganz so bereit ist, ist darauf zurückzuführen.
Träumen Sie von einem weiteren Sieg beim Finale in Paris?
Greipel: Jeder Sprinter, der noch im Rennen ist, denkt an die Champs Élysées. Da muss man viele Dinge richtig machen. Man kann aber auch viele Dinge falsch machen. Ich hoffe, dass ich dort noch mal meinen Sprint fahren kann.
Wie erleben Sie die Tour in diesem Jahr?
Greipel: Es ist ein anderer Zirkus als die letzten Jahre. Wir fahren nur Fahrrad. Wir sind in unseren Blasen unterwegs, haben keinen Kontakt nach außen. Wir brauchen keine Autogramme schreiben, müssen nicht großartig Interviews geben. Das ist wie mit seinen Kollegen zum Training zu gehen. Das ist schon eine komische Tour. Auf der anderen Seite ist es schön zu sehen, dass das Konzept so gut funktioniert. Das ist ein super Beispiel für andere Sportveranstaltungen.
Die Infektionszahlen steigen in Frankreich. Haben Sie die Sorge, dass es die Tour nicht bis Paris schafft?
Greipel: Natürlich sind das die Gedanken, die in unseren Köpfen herumschwirren. Eine Tour ohne Paris ist keine Tour. Wir brauen es, dass die Tour bis dahin weiterfährt. Ob das zu verantworten ist, ist die andere Seite. Da gibt es andere Leute, die die Entscheidung treffen.
Bei einigen Etappen gab es Szenen von Zuschauermassen wie in früheren Zeiten. Wie haben Sie das wahrgenommen?
Greipel: In Lyon hat das Hygienekonzept nicht gegriffen, am Grand Colombier umso besser. Lyon ist keine Kleinstadt. Da kann man niemandem verbieten, auf die Straße zu gehen. Natürlich war das beängstigend nah, wie die Zuschauer herangekommen sind. Das ist nicht das, was die Verantwortlichen haben wollten.
Im nächsten Jahr kommt Chris Froome ins Team. Dann wird sich die Ausrichtung ändern und ein Sprinter bei der Tour womöglich nicht mehr gebraucht werden.
Greipel: Mit Sicherheit wird das so sein. Ich gehe davon aus, dass das meine letzte Tour ist. Aber das ist in Ordnung.
Freuen Sie sich auf die Zusammenarbeit mit Froome?
Greipel: Ich gehe davon aus, dass wir nicht viele Radrennen zusammen fahren werden, weil wir verschiedene Fahrertypen sind. Aber für die Lebenserfahrung kann man schon noch etwas mitnehmen.
Kommt womöglich durch Froome noch mehr Professionalität in Sachen wie Material ins Team?
Greipel: Man muss sehen, wie viel er daran beteiligt war. Bei Ineos wird den Fahrern viel abgenommen, ohne dass es die Fahrer zu schätzen wissen. Hier wird auch viel getüftelt, aber längst nicht so wie bei Ineos.
Sie haben noch einmal für zwei Jahre unterschrieben. Es scheint, dass Sie bei Israel Start-Up Nation Ihr Glück gefunden haben?
Greipel: Es ist kein Geheimnis, dass ich bei Arkea-Samsic nicht zufrieden war. Deshalb habe ich die Mannschaft verlassen. Hier fühle ich mich wohl und versuche, meine Karriere zu Ende zu bringen.
Was macht die Mannschaft so besonders?
Greipel: Wir sind hier mit vielen Nationen zusammen in einem Team. Das Projekt ist sehr vielversprechend und danach ausgerichtet, nach den besten Dingen zu streben, wie etwa Material oder Ernährung.
Zurück zur Tour - wie erleben Sie den Zweikampf zwischen Primoz Roglic und Tadej Pogacar an der Spitze?
Greipel: Mit Sicherheit fahren die beiden in einer eigenen Liga und haben eine starke Mannschaft dahinter. Man schaue auf Wout van Aert. Er hat zwei Etappen gewonnen und fährt die ganze Zeit für seinen Gelben von vorne. Das ist beeindruckend.
Wer ist Ihr Favorit?
Greipel: Roglic.
Pogacar ist 17 Jahre jünger als Sie...
Greipel: Die Profis werden immer jünger. Mit 21 bin ich noch U23 gefahren. Das ist jetzt nicht mehr der Fall. Viele Juniorenfahrer gehen direkt in den Zirkus rein. Ich weiß nicht, ob das gut für die jungen Fahrer ist. Sie haben aber das Zeug, die Erfolge einzufahren. Ob die mit 38 immer noch auf dem Fahrrad sitzen, weiß man nicht.
Woran liegt das?
Greipel: Die Trainingspläne sind beispielsweise viel professioneller geworden, auch im Juniorenbereich. Es gibt viele Messtechniken. Ein Juniorenfahrer trainiert anders als wir. Das ist ein komischer Aspekt, dass die jungen Fahrer so gut aufgestellt sind und die Erfolge einfahren.
ZUR PERSON: André Greipel (38) ist seit 16 Jahren Radprofi. Aktuell bestreitet er für das Team Israel Start-Up Nation seine zehnte Tour. Der gebürtige Rostocker gewann in seiner Karriere elf Tour-Etappen und ist mit 156 Profisiegen der erfolgreichste Fahrer im Feld.