Leichtathletik Leere nach Bolt: "Ausnahmeathleten gibt es nicht alle Jahre"
Tokio (dpa) - Leichtathletik-Überfigur Usain Bolt verfolgt das Schaulaufen seiner Nachfolger bei den Olympischen Spielen in Tokio ganz entspannt. Wie sollte es bei dem Jamaikaner auch anders sein?
Und ganz bestimmt hat der ehemalige Sprint-Megastar keine Sorge um den Fortbestand seiner Fabelweltrekorde über 100 und 200 Meter. "Ich bin sehr zuversichtlich", befand Privatier Bolt vor Kurzem. Er sage zwar nicht, "dass es nicht passieren" werde in Japan. Aber dem aktuellen Jahrgang traue er sein irres Niveau von 9,58 und 19,19 Sekunden noch nicht zu. "Also, wir werden sehen, was passiert."
Bolt erfolgreich und charismatisch
2008 in Peking, 2012 in London und 2016 in Rio de Janeiro überstrahlte Ausnahmeerscheinung Bolt jeweils mit Doppel-Gold einfach alles. Nach dem Rücktritt des charismatischen Entertainers 2017 sucht die weltgrößte Sportbühne auch für Tokio nach einer Athletin oder einem Athleten, die diese Leere mit Leistung und Ausstrahlung ausfüllen können. Spuren führen sogar nach Deutschland.
"Einen Ausnahmeathleten wie Usain Bolt mit diesem Charisma gibt es nicht alle Jahre und nicht so schnell wieder. Es gibt aber welche, die das Zeug dazu hätten", meinte der Präsident des Deutschen Leichtathletik-Verbands (DLV) Jürgen Kessing und nannte 400-Meter-Hürden-Weltrekordler Karsten Warholm (25) oder Stabhochspringer Armand Duplantis (21). Aber auch Deutsche wie Speerwerfer Johannes Vetter (28), Weitsprung-Weltmeisterin Malaika Mihambo (27) oder Zehnkampf-Weltmeister Niklas Kaul (23) hätten den Star-Faktor für den ganz großen Auftritt.
DLV-Cheftrainerin Annett Stein nannte außerdem den überragenden kenianischen Marathonläufer Eliud Kipchoge (36). Aber auch sie kam am 19 Mal am Stück siegreichen Vetter nicht vorbei. Er sei mit "seinem überragenden 90-Meter-Niveau" und "auch mit seiner Persönlichkeit auf dem Weg zu einem Superstar der Leichtathletik", befand sie.
Vetter der "Usain Bolt der Speerwerfens"
Frank Busemann, Silbermedaillen-Gewinner im Zehnkampf bei den Olympischen Spielen 1996, hält ebenfalls eine Menge von Vetter. "Der lässt seine Konkurrenten aussehen, als wären die in der Kreisklasse unterwegs", sagte Busemann im Interview der ARD-Sportschau. "Er ist der Usain Bolt der Speerwerfens."
Das ist schon mal wichtig: ein Alleinstellungsmerkmal. Bolt, dieser achtmalige Olympia-Champion sowie elfmalige Weltmeister, war sportlich eine Ausnahmefigur. Zugleich aber auch jemand, der den Sport als Show-Branche begriff. In einem höheren Maß noch als die frühere Weltklasse-Stabhochspringerin Jelena Issinbajewa.
Hoher Unterhaltungsfaktor bedeutet viele Zuschauer, viele Zuschauer bedeuten wiederum viel Geld für die Leichtathletik und das Internationale Olympische Komitee. "Ich bin ein Sprinter, aber auch ein Entertainer", sagte Bolt einmal.
Der Norweger Warholm könnte vielleicht in diese Rolle hineinwachsen. Die Macht der Bilder kennt er. Nach seinem WM-Sieg 2017 in London drehte er mit Wikingerhelm Ehrenrunden. So eine Kopfbedeckung lässt sich sicher auch in Japan auftreiben.
Angeblich schon im Windelalter wusste Duplantis was er werden wollte: der Beste. Er wurde es im Stabhochsprung. "Mondo", wie er nur genannt wird, verschiebt Grenzen. Das ist ziemlich hilfreich, um als Superstar wahrgenommen werden zu können.
Die sechsfache Olympiasiegerin Allyson Felix (35) war lange ein stiller Star. Noch während der Schwangerschaft mit ihrem ersten Kind 2018 legte sich die US-amerikanische Sprinterin aber mit Nike an, weil ihr der langjährige Sponsor Leistungen kürzen wollte. Wo war da die Unterstützung für werdende Mütter? Nike hat seitdem nach eigener Aussage die Zahlungen für Schwangere ausgedehnt.
Und was ist mit Bolts ehemaligen Paradedisziplinen? Da wäre Trayvon Bromell (26). Bolt sieht in dem US-Amerikaner den Gold-Favoriten auf den 100 Metern. Was wäre das für eine Geschichte? Bromell, der im Juni 9,77 Sekunden schnell lief, hatte schon schwere Verletzungen an den Knien, der Hüfte und der Ferse. Außerdem läuft der aus armen Verhältnissen stammende Bromell nicht nur für den Ruhm. "Meine Ziel ist der Wandel", verkündete er. "Ich will Hoffnung spenden."
Ein direktes Duell mit US-Sprinter Noah Lyles (24) wird es in Tokio nicht geben. Lyles, der im vergangenen Sommer seine Erkrankung an Depressionen öffentlich gemacht hat, startet über die 200 Meter. Der Weltmeister über diese Distanz von 2019 läuft fast mühelos, macht gerne Musik und hat ein Faible für extravagante Mode. Die Kameras lieben ihn. Vielleicht auch bald die Leichtathletik-Massen.