Sensation bei WM 1962 Vom Dorf-Fußballer zum deutschen WM-Torwart
Wenn Deutschland auf einer Position nie Probleme hatte, dann auf der zwischen den Pfosten. Doch bei der WM 1962 sorgte Trainer Sepp Herberger für eine Sensation
In einer neuen Serie zur deutschen WM-Historie erzählt Autor Udo Muras die spektakulärsten Geschichten. In Teil drei geht es um die Riesenüberraschung im deutschen Tor 1962.
Es kam nicht oft vor, dass kurz vor einer WM der deutsche Torwart nicht feststand. Jetzt ist es wieder so: Packt es Manuel Neuer oder nicht? Die Entscheidung fällt wohl am Samstag im Spiel gegen Österreich, jedenfalls noch vor dem Abflug nach Russland. Zur Debatte steht nicht sein Können, sondern (nach langer Verletzungspause) nur seine Form.
Auch vor der WM 1954 oder der WM 1994 legten sich die Bundestrainer erst im Trainingslager fest, damals für den legendären Toni Turek und für Bodo Illgner, obwohl der 1990 schon Weltmeister geworden war. Doch ihre Konkurrenten Hans Kubsch beziehungsweise Andreas Köpke waren nahezu gleichwertig. Während Sepp Herberger mit Turek alles richtig gemacht hat, bereute Berti Vogts nach dem Aus in den USA seine Wahl: "Ich habe den falschen Torwart aufgestellt." Einmal freilich fiel die Entscheidung erst am Tag vor dem ersten Spiel – 1962 in Chile. Und sie war eine Sensation.
Der Favorit hieß Hans Tilkowski von Westfalia Herne. Doch nach der Landung in Chile, wo der DFB-Tross nach fünf Zwischenlandungen am 20. Mai in einer Militärschule in Santiago Quartier nahm, war alles anders. Nicht nur das Wetter, in Chile war Herbst und manchmal sogar Fritz-Walter-Wetter.
Tilkowski reagierte sich in seinem Hotelzimmer ab
Das Unheil für den Platzhirschen nahte am 30. Mai. Tilkowski saß gerade mit den Reservisten Heinz Vollmar und Günter Herrmann beim Skat, als er selbst zum Reservist wurde. Vollmar erwähnte beiläufig, er habe gehört, dass Fahrian gegen Italien spiele. Tilkowski zeigte ihm nur den Vogel, doch als Co-Trainer Helmut Schön plötzlich im Zimmer stand und sagte "Hans, der Chef möchte Sie sprechen!", stieg ihm das Blut schon in den Kopf. Plötzlich fiel ihm wieder ein, dass Bundestrainer Sepp Herberger dauernd bei Schöns Torwart-Training vorbeigeschaut und gefragt hatte: "Helmut, was meinen Sie?"
Nun erfuhr Tilkowski, was das Trainergespann meinte. "Hans, morgen gegen Italien steht Fahrian im Tor", eröffnete ihm Herberger. Ein Torwartwechsel am Tag vor einer WM, das war unerhört in der DFB-Geschichte und zu viel für Tilkowski, wie er in seinem Buch "Und ewig fällt das Wembley-Tor" ausführte. Demnach konterte er: "Es ist ihre Entscheidung. Meine Entscheidung ist: Ich spiele nie mehr für Deutschland." Er bat um seinen Reisepass und das Rückflugticket, doch beides wurde ihm verwehrt. Wütend dampfte er ab.
Im spartanisch eingerichteten Vierbettzimmer reagierte sich Tilkowski in der Nacht auf den 31. Mai dann ab. "Einer der Stühle steht mir im Weg, als ich ins Zimmer stürze. Mit aller Kraft, die einen Ball bis in den gegnerischen Strafraum befördert hätte, trete ich den Stuhl quer durch den Raum. Daraus wird dann in einigen Presseberichten, der randalierende Tilkowski habe im Trainingsquartier der deutschen Mannschaft das Mobiliar zerlegt. Da gab es nicht viel zu zerlegen."
Fahrian: Vom "Dorf-Fußballer" zum WM-Torwart
Tilkowski sprach in Chile und auch noch ein paar Jahre danach kein Wort mehr mit Herberger und erwiderte nicht mal seine Grüße. Erst nach dessen Rücktritt 1964 kehrte er ins deutsche Tor zurück, 1966 stand er im mythischen Wembley-Finale und kassierte das Tor seines Lebens.
Sepp Herberger gab derweil vor den perplexen Pressevertretern in Chile lapidar zu, "der Til ist eingeschnappt" und gestand: "Glauben Sie mir, es war mein bisher schwerster Entschluss."
Ein Entschluss, der einen jungen Mann unbeschreiblich glücklich machte. Am Tag vor seinem 21. Geburtstag wurde der in der 2. Liga Süd spielende Wolfgang Fahrian (TSG Ulm) zur Nummer 1 befördert. Es gab damals noch keine Bundesliga, nur vier Oberligen und die Berliner Stadtliga – und damit 74 Torhüter, die höherklassiger spielten als er. Aber keiner schien besser zu sein als der fesche Fahrian, der erstmals im September 1960 bei einem Punktspiel das Tor hütete. Und sein WM-Debüt am Geburtstag war erst sein zweites Länderspiel. Fahrian sagte im Rückblick: "Kurz davor galt ich noch als Dorf-Fußballer und plötzlich stand ich bei allen WM-Spielen im Tor."
"Mein Vorteil war die Erfahrung als Feldspieler"
Seine Karriere war sensationell, denn bis zur A-Jugend war er noch Verteidiger, spielte als solcher in der süddeutschen Jugendauswahl. "Da bin ich sogar mal dem Helmut Schön aufgefallen, als Verteidiger wohl gemerkt! Aber im Training in Ulm stand ich immer mal im Tor und unser Trainer Fred Hoffmann erkannte mein Talent. Dann hatten wir einen Ausfall im Tor und ich durfte rein. Na ja, und in Ulm haben wir auch ganz gut gespielt damals, da fällt man schon mal auf." So erinnerte sich Fahrian noch in diesem Frühjahr an die Vorgänge vor fast 60 Jahren.
In einem Interview für das DFB-Magazin "Club der Nationalspieler" sagte er: "Meine Konkurrenten waren Hans Tilkowski und Günter Sawitzki, die waren ein Stück älter als ich. Aber mein Vorteil war gerade die Erfahrung als Feldspieler. Man weiß, wie die Stürmer ticken und harmoniert besser mit den Verteidigern, wenn man selbst einer war."
Nach einem ordentlichen B-Länderspiel im Oktober 1961 testete ihn Herberger noch einmal in der A-Mannschaft, am 30. Mai 1962 in Hamburg hielt er gegen Uruguay (3:0) seinen Kasten sauber. Der "kicker" schrieb: "Das Torwartproblem ist gelöst" und eine italienische Zeitung fand: "Dieser Mann erinnert in seinem Stil an die besten südeuropäischen Torhüter."
Fahrian wurde von der Kritik ausgenommen
Und doch wollte niemand glauben, dass Herberger seine Nummer 1, die alle Qualifikationsspiele bestritten und 16 Länderspiele auf dem Buckel hatte, für einen solchen Grünling tauschen würde. Bis zu jenem 31. Mai, als er plötzlich gegen Italien im Kasten stand: Fahrian: "Das war ein schönes Geburtstagsgeschenk, aber glauben Sie mir: es ging streng nach Leistung."
Und die brachte er auch in Chile. Gegen Italien (0:0) und die Gastgeber (2:0) blieb er unbezwungen, gegen die Schweiz (2:1) kassierte er ein Traumtor. Und auch am 0:1 im Viertelfinale gegen Jugoslawien war er schuldlos.
Die Kritik stürzte sich damals auf Herbergers allzu defensive Spielweise, aber nicht auf den jungen Torwart. Fahrian ist sicher einer der wenigen, der über die verkorkste Chile-WM positiv sprechen kann. Und das tut er bis heute: "Ich war gerade 21 und durfte zum ersten Mal fliegen – und dann auch noch auf einen anderen Kontinent. Ein Länderspiel ist schon schön, aber dann auch noch bei einer WM – einfach großartig. Ich hab meine zehn Länderspiele gemacht und war bei einer WM dabei, das kann mir keiner mehr nehmen. Erinnerungen sind mit das Schönste, was man mitnehmen kann."
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