Krawalle und Medien Was passiert wirklich in Sao Paulo?
Aus Brasilien berichtet Thomas Tamberg
Megastreik, Super-Stau, Stadiongelände besetzt, Stadion noch nicht fertiggebaut, Krawalle. Kurz und knapp: "Sao Paulo versinkt im Chaos". Zumindest lautete so eine Schlagzeile, die kürzlich über Nachrichtenticker lief. Angesichts der Meldungen der vergangenen Tage könnte es einem wahrlich Angst und Bange werden. Wie soll in der brasilianischen Metropole jemals das Eröffnungsspiel der WM 2014 zwischen dem Gastgeber und Kroatien (ab 21.45 Uhr im T-online.de-Liveticker) einigermaßen zivilisiert über die Bühne gehen? Anstatt voller Vorfreude zu sein, dass nach 64 Jahren das wichtigste Einzel-Sportereignis der Welt wieder in Brasilien stattfindet, scheint das Gastgeberland viel zu sehr mit seinen Problemen beschäftigt zu sein. Oder etwa nicht?
"Ich würde nicht von einer geringen Vorfreude sprechen, sondern eher von einer durch die Ereignisse getrübte. Sie litt durch die Demonstrationen gegen die negativen Aspekte der WM", sagt Henning Dauch. Anstatt das Geld in Infrastruktur, Schulen und Krankenhäuser zu investieren, versickerten Millionen Reais in den Taschen korrupter Geschäftemacher und überteuerten Stadien.
Stimmung besser als vermutet
Der 72 Jahre alte Dauch, ehemaliger Geschäftsführer der Swarovski-Dependance in Südamerika, lebt seit 1948 in Sao Paulo und kann die große Aufregung vor allem in der ausländischen Berichterstattung kaum nachvollziehen. "Die Stimmung war nie so schlecht, wie sie gemacht wurde, die Proteste seien völlig überbewertet", sagt er.
Im Ballungsgebiet Sao Paulo leben schätzungsweise 20 Millionen Menschen. So genau weiß das niemand. Hier gab und gibt es immer mal wieder Proteste. "Wenn 5000 Menschen auf die Straße gehen, dann ist das eine Minderheit im Vergleich zum Rest", sagt Dauch. Allerdings seien diese durch die bevorstehende WM plötzlich für die Medien von Bedeutung.
Die Medien spielen mit
Und ein wenig ist es so, dass sich Medien und Streikende gegenseitig hochschaukeln. "Streiks gibt es auf der ganzen Welt. Das hat im Grunde nichts mit der WM zu tun", sieht auch Brasiliens Rekord-Nationalspieler Cafu die Situation weniger dramatisch, als sie dargestellt wird. "Es ist bei uns ein Moment, in dem die Bevölkerung glaubt, dass man seine Stimme im Vorfeld der WM am deutlichsten hört", so der zweifache Weltmeister weiter.
Der Brasilianer ist eigentlich kein besonders politischer Mensch. In den vergangenen Jahren schaffte es das Land unter Präsident Lula, Millionen Menschen aus der Armut herauszuholen. Eine neue Mittelschicht entstand. Und die hat plötzlich ihre Stimme entdeckt. Da allerdings Lula und seine Nachfolgerin Dilma Rousseff die WM allzu sehr als Erfolg ihrer Arbeiter-Partei PT gefeiert haben, bekommen sie nun auch die Quittung. So gesehen kann man sagen, dass das weltgrößte Fußballturnier zur Politisierung der Brasilianer beigetragen hat.
Jeder demonstriert für etwas anderes
Was allerdings in der Berichterstattung oft unerwähnt bleibt, ist die Tatsache, dass die Streikenden oftmals für völlig unterschiedliche Sachen eintreten, bei denen das eine mit dem anderen nichts zu tun hat. Der eine protestiert gegen die Fahrpreiserhöhung von Bussen, der andere für die Erhaltung des Regenwaldes. Dazu nutzen Krawallmacher die Situation aus und versuchen die Ordnung zu stören, um Geschäfte zu plündern. Sie organisieren sich in sogenannten Black Blocks und sorgen bei Polizei und friedlichen Demonstranten gleichermaßen für jede Menge Frust.
Frust bauten zuletzt auch 150 streikende U-Bahn-Angestellte ab. Ihre Parolen, wie "es wird keine WM geben“, taugen zwar für eine gute Schlagzeile, einzig der Wahrheitsgehalt tendiert gegen Null. Da Sao Paulo verkehrstechnisch traditionell immer kurz vor dem Kollaps steht, wird angesichts ausfallender öffentlicher Verkehrsmittel schnell vom drohenden "Verkehrs-Infarkt" gesprochen.
Es ist ein Feiertag
Nur ein Randaspekt bleibt jedoch, dass die Regierung extra für den Tag des Eröffnungsspiels einen Feiertag angeordnet hat. "Die meisten Menschen werden zu Hause den Fernseher einschalten oder in irgendwelche nahegelegenen Lokale gehen, um sich mit anderen zu freuen", sagt Dauch. Es ist daher eher wahrscheinlich, dass man am Tag des Brasilien-Spiels so gut wie schon lange nicht mehr durch die Stadt fahren kann und die Fans ohne zusätzliche Probleme das Stadion erreichen.
Und selbst im Falle einer Auftaktpleite gegen Kroatien wird sich die Situation nicht verschärfen. "Die Brasilianer verknüpfen eine sportliche Niederlage nicht mit den Protesten gegen soziale Ungerechtigkeit", sagt Dauch. Höchstens die Black Blocks treten wieder auf den Plan. Doch ansonsten würden die Gastgeber einfach nur still in sich hinein trauern.
Noch ein weiter Weg
Aber davon geht keiner aus - nicht nur in Sao Paulo. Die Stadt ist mittlerweile geschmückt und das WM-Fieber steigt. Dass das Land noch viele Reformen vor sich hat, ist jedem klar. Doch darunter soll der Fußball nicht leiden. "Es wird Zeit, dass der Ball endlich rollt", fiebert nicht nur Dauch dem Anpfiff entgegen. Er selbst hat übrigens die doppelte Staatsbürgerschaft und drückt Brasilien die Daumen.